Dystopia
Versiegelung wieder zusammengefügt, und sie haben sich automatisch wieder verschlossen. Und dann haben alle im Raum der Reihe nach versucht, sie auseinanderzuziehen, ohne Erfolg. Auch ich habe sie nicht mehr auseinanderbekommen. Es war, als wollte man einen Klumpen Stahl auseinanderziehen. Paige aber hatte eine Theorie, und sie brauchte nur eine Stunde, um sie zu beweisen. Sie positionierte zwei Roboterarme an der Versiegelung und ließ sie methodisch mit unterschiedlich abgestufter Kraft an den Hälften ziehen. Bei genau 12,4 Newton öffnete sich die Versiegelung.»
Travis meinte zu verstehen. «Sie öffnet sich also nicht, wenn nur ein Hauch Kraft mehr oder weniger angewendet wird, richtig?»
Sie nickte. «Man muss etwa eine Sekunde lang exakt diese Kraft anwenden. Weicht sie in diesem Zeitraum auch nur ein Zentinewton nach oben oder unten hin ab, lässt sich die Versiegelung nicht öffnen.»
«Ist ewig lange her, dass ich in der Highschool Physik hatte», sagte Travis. «Ich weiß gar nicht mehr, ob ich überhaupt einen Physikkurs belegt hatte. Was genau habe ich mir unter einem Zentinewton vorzustellen?»
Sie überlegte kurz. «Sagen wir mal, es bedarf einer Kraft von 12,4 Newton, um eine gebundene Ausgabe von
Krieg und Frieden
hochzuheben. Reißt man zwanzig Seiten heraus, sind nur noch 12,3 Newton erforderlich. So hauchfein ist der Unterschied hier.»
«Da bleibt wenig Spielraum.»
«Sie machen sich keinen Begriff. Auch nachdem wir wussten, welcher Kraft es für wie lange bedurfte, hat keiner von uns die Versiegelung noch einmal aufbekommen. Es ist so gut wie unmöglich. Nur bei mir hat es, ohne dieses Vorwissen, gleich beim ersten Mal geklappt. Die Chancen darauf standen eins zu einhunderttausend, es war reiner Zufall.» Ihr Gesicht nahm wieder den nervösen, angespannten Ausdruck an, der Travis bei ihr aufgefallen war, als sie unten vor seiner Wohnung gestanden hatte. «Womit all das hier, wenn man es genau bedenkt, meine Schuld ist. Der Angriff auf die Wagenkolonne. Alles. Wenn ich nicht bei Tangent angefangen hätte, wäre all das nicht passiert. Diese Entität und ihr Gegenstück hätten bis in alle Ewigkeit versiegelt auf dem Laborregal gelegen.»
Während sie sprach, starrte Travis abwesend vor sich hin und dachte darüber nach, warum die unbekannten Konstrukteure dieser Entitäten sie wohl in Versiegelungen einschlossen, die so schwierig zu öffnen waren. Er musste an kindersichere Verschlüsse bei chemischen Reinigungsmitteln denken und spürte, wie ihn spontan eine Gänsehaut überlief. Weil wohl zu vermuten war, dass die unbekannten Wesen auf der anderen Seite der Pforte ihre Vorsichtsmaßnahme aus ganz ähnlichen Gründen getroffen hatten. Diese schwarzen Zylinder mochten für sie bloße Werkzeuge sein, aber sie waren trotzdem brandgefährlich. Gefährlich sogar für ihre Schöpfer.
Travis senkte den Blick auf den « AN »-Knopf und sah dann Bethany an. Auch sie folgte seinem Blick.
Das Zylinderende mit der eingelassenen Linse ragte ein kleines Stück über die Sofakante hinaus und war in den Raum gerichtet.
«Tun wir’s einfach», sagte Travis.
Bethany nickte. «Wollen wir bis drei zählen?»
«Nein.» Travis drückte auf den Knopf.
8
Die Wirkung erfolgte augenblicklich. Travis spürte, wie der Knopf unter seiner Fingerspitze klickte, und schon schoss aus der Linse am Zylinderende ein langgezogener, schmaler Lichtkegel, der sich nur mäßig erweiterte, auf anderthalb Metern vielleicht um dreißig Zentimeter. Das Licht selbst war dunkelblau, nahezu violett.
Drei Meter vor der Linse hörte der Lichtkegel mitten in der Luft auf, als befände sich dort eine Projektionswand. Was er dort in die Luft projizierte, etwa in Brusthöhe, weil der Zylinder auf dem Sofa leicht nach oben zeigte, war eine schwarze Scheibe von sechzig Zentimetern Durchmesser.
Travis starrte die Scheibe an. Für einen Moment verlor er jedes Zeitgefühl.
Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie Bethany ihm einen raschen Blick zuwarf, dann jedoch sofort wieder die Scheibe ansah, ebenso gespannt wie er.
Mehr Zeit verstrich, ohne dass sich an der Scheibe etwas veränderte.
Travis wusste nicht, was er genau erwartete. Vielleicht, dass ihnen die Projektion irgendetwas zeigte. Ein auf der anderen Seite des Portals entstandenes Video? Etwas von solcher Tragweite, dass Paige es für unerlässlich gehalten hatte, es dem Präsidenten vorzuführen. Fraglich nur, inwiefern das bei ihm einen Nerv getroffen haben mochte.
Er
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