Dystopia
Eiche hinweg, von dem aus man leicht auf die Erde hinabklettern konnte.
Travis stieg durch die Öffnung hinüber. Bethany blieb neben dem Zylinder im Zimmer stehen, hielt ihren Finger über dem dritten Knopf in Bereitschaft und sah ihn an.
«Sag mir, wann», sagte sie.
Travis sah auf seine Uhr. Der Sekundenzeiger war noch zehn Striche von der Zwölf entfernt. Als er nur noch drei Striche entfernt war, sagte er: «Jetzt.»
Bethany drückte auf den Knopf. Der Lichtkegel leuchtete kurze Zeit hell auf und erlosch dann. Die Iris blieb weiter offen. Bethany nahm den Zylinder vom Sessel, trat an die Öffnung und reichte ihn Travis hinüber, der ihn fest an sich drückte.
Dann streckte sie die Arme durch die Öffnung, packte den Ast der Eiche und zog sich auf den Stahlträger hinüber.
«Was machst du denn?», fragte Travis.
«Was meinst du?»
«Du musst doch nicht mitkommen. Dieses Risiko müssen wir nicht beide eingehen. Falls wir uns irren und es führt kein Weg zurück, kannst du ebenso gut in der Gegenwart bleiben.»
«Wozu?», fragte sie. «Dann würde ich hier ohne den Zylinder festsitzen. Was sollte ich dann tun?»
«Als Renee Turner weiterleben. Es noch mal richtig krachen lassen. Wozu du gerade Lust hast.»
«Ja. Vier Monate lang. Mit dem Wissen im Hinterkopf, dass in vier Monaten die Welt untergeht.»
«Was vermutlich länger ist, als wir hier auf dieser Seite überleben würden.» Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch sechzig Sekunden. «Das ist idiotisch. Warte lieber im Hotelzimmer.»
«Das ist ja genau dieselbe Nummer wie vorhin bei dem rissigen Betonboden.»
«Ja, allerdings, und es besteht kein Grund, wieso du ihn betreten solltest.»
Sie wandte sich ihm zu, an den Ast gelehnt, der sich zwischen ihnen befand. Die Bewölkung hatte sich inzwischen ein wenig gelockert, sodass er zum ersten Mal Gelegenheit hatte, sich ihre Augen näher anzusehen. Bislang hatte er gedacht, sie wären braun. In Wirklichkeit waren sie grün, aber so dunkel, dass sie nahezu schwarz wirkten.
«Du bist bereit, für eine Person, die dir viel bedeutet, das Risiko einzugehen, als einziger Mensch auf Erden zu enden», sagte sie. «Und ich finde, jemand, der zu so etwas bereit ist, sollte so ein Schicksal nicht unbedingt erleiden. Falls wir beide am Ende hier festsitzen, fällt uns schon etwas ein, wie wir uns die Zeit vertreiben können.»
Er sah sie an. Was sie ihm anbot, war so ungefähr das Selbstloseste, was ein Mensch einem anderen anbieten konnte. Nach einer Schrecksekunde fand er die Sprache wieder.
«Danke.»
«Nichts zu danken.»
Er sah auf die Uhr. «Noch dreißig Sekunden.»
Sie nickte. Schluckte schwer.
Dann wandten sie sich beide um und starrten durch die Iris. Durch die Fenster auf der anderen Seite des Zimmers konnten sie die Stadt sehen, so, wie sie in der Gegenwart aussah. Die imposanten Gebäude, das Schimmern der Sonne auf spiegelndem Glas. Den Verkehr, der wohlgeordnet durch den Kreisverkehr am Ende der Straße strömte. Leute in T-Shirts und kurzen Hosen auf den Bürgersteigen. Eltern, die mit ihren Kindern an einem sonnigen Sommervormittag in der Stadt unterwegs waren.
«Auf der Welt mag vieles im Argen liegen», sagte Travis, «aber den Untergang hat sie wirklich nicht verdient.»
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Bethany nickte.
Und dann schloss sich die Iris vor ihnen, worauf das Bild der Gegenwart unvermittelt vom trostlosen Bild der Zukunft überlagert wurde. Von den gerade noch intakten Gebäuden waren nur noch schiefe Skelette übrig, die eben noch so belebte Straße war menschenleer und von Verfall gekennzeichnet. Der plötzliche Gegensatz erschütterte Travis weit schlimmer, als er gedacht hätte. Bethany neben ihm stieß langsam die Luft aus. Anscheinend ging es ihr nicht viel anders.
Travis wechselte auf einen Stahlträger, der in rechtem Winkel von dem Träger abzweigte, auf den sie hinausgestiegen waren, und entfernte sich etwa drei Meter, bis er an einer Stelle angelangt war, von der aus der Zylinder die Iris etwa an dieselbe Stelle projizieren würde, von der sie soeben verschwunden war. Bethany blieb in sicherer Entfernung auf dem ersten Träger stehen.
Travis fragte sich unwillkürlich, welcher Anblick sich ihnen wohl bieten würde, falls sie sich irrten. Falls die Iris sich öffnete und dahinter Washington zum Vorschein käme, wie es in abermals siebzig Jahren aussehen würde. Von den Gebäudeskeletten würde vermutlich keine Spur mehr übrig sein, und auch von den
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