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Dystopia

Dystopia

Titel: Dystopia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Lee
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Travis ihn wieder von hinten am Kragen und stieß ihn unsanft auf den Stahlträger am nördlichen Rand der Betonfläche zu. Er drängte ihn so weit nach vorn, dass er zwar gerade noch auf dem Träger stand, sein Oberkörper aber einen halben Meter weit ins Leere ragte, acht Stockwerke über der Erde.
    Dem Mann stockte hörbar der Atem. Sein Körper erstarrte vor Furcht, er wagte nicht, sich zu wehren. Er atmete nur ganz flach und stoßweise, als befürchtete er, sonst das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen.
    Travis hatte die Füße von innen her gegen den Stahlträger gestemmt und lehnte sich zurück, während er den Mann, der in einem Dreißig-Grad-Winkel nach vorn über der Tiefe schwebte, mit ausgestrecktem Arm vor sich festhielt.
    «Wo ist die Frau?», fragte Travis.
    Der Mann antwortete erst nach einer Schrecksekunde. «Welche Frau?»
    «Verarschen Sie mich nicht. Man hat sie letzte Nacht hergebracht, nach dem Überfall auf die Wagenkolonne.»
    Weitere Sekunden verstrichen. Der Kerl legte den Kopf schräg. Er kannte die Antwort. Anderenfalls hätte er das schon längst lautstark bestritten.
    Travis verlagerte sein Gewicht ein klein wenig nach vorn, ganz kurz nur, ehe er den Kerl wieder am Schlafittchen zurückriss. Mit der Folge, dass der Mann eine halbe Sekunde lang den Eindruck hatte, zu fallen. Er vermochte nicht einmal zu schreien, sondern gab nur ein gepresstes Wimmern von sich.
    Dann gab er sich einen Ruck. «Man hat sie in Mr. Finns Büro gebracht. Jetzt eben erst. Vor ein paar Minuten», sagte er mit hoher, monotoner Stimme.
    «Wo ist dieses Büro?»
    «Im obersten Stock. In der Südwestecke.»
    Travis ließ seinen Kragen los.
    Der Kerl riss die Arme vor und ruderte verzweifelt damit in der Luft herum, wie um irgendetwas zu fassen zu bekommen. Aber da war nichts. Er schnappte krampfhaft nach Luft, kreischte los wie ein junges Mädchen in einem Horrorfilm, und dann war er auch schon fort, hinabgestürzt in die Tiefe.
    Travis ersparte es sich, seinen Aufschlag zu beobachten, und wandte sich um. Bethany stand da und sah ihn entsetzt an, die Hand an den Mund gepresst, die Flinte achtlos um die Schulter gehängt.
    «Diese Typen haben angefangen», sagte Travis. «Wir haben uns nicht danach gedrängt, in diese Sache verwickelt zu werden.»
    Mehr wusste er nicht vorzubringen.
    Nach einem letzten langen Blick in ihre Augen ging er zu dem Zylinder, schaltete ihn aus und machte sich damit über die Stahlträger auf den Weg zur Treppe. Schon nach wenigen Metern verfiel er in Laufschritt. Er wandte sich kurz um und sah, dass Bethany sich den Rucksack um die Schulter warf, die Brieftasche aufhob und ihm dann folgte.
     
    Paige saß da und wartete auf Isaac Finn. Wer das war, wusste sie nicht, sie hatte nur seinen Namen auf dem Messingschild an der Tür gelesen, als die beiden kräftigen Männer sie in sein Büro getragen hatten.
    Finns Büro war überaus geräumig. Dreimal so groß wie der Raum, in dem sie bisher gefangen gehalten worden war. An der Südfront zog sich ein Balkon entlang, von dem aus sich eine wahre Bilderbuchaussicht auf Washington bot. Wie auf einem Plakat, auf dem alle wichtigen Gebäude mit kleinen Hinweisschildern versehen waren. Alle Zentren der Macht waren zu sehen, vom Weißen Haus über das Kapitol bis hin zum Obersten Gerichtshof und noch etliche weitere Gebäude, in denen sich Macht auf jede nur erdenkliche Art und Weise bündelte. Paige fragte sich, wie viele dieser Gebäude das Hochhaus hier an Bedeutung übertreffen mochten. Vielleicht alle.
    Sie saß auf einem Ledersofa, weiter an Handgelenken und Knöcheln gefesselt. Die beiden kräftigen Männer standen an der Tür, mit vor dem Körper gefalteten Händen. Beide waren mit Berettas bewaffnet, die sie in Holstern unter dem Sakko trugen – Paige hatte einen Blick darauf erhascht, als sie von ihnen von dem anderen Raum hergetragen wurde.
    Die Tür ging auf, und ein Mann um die fünfzig kam herein. Schlank, über einen Meter achtzig groß, mit dunklem, schon grau meliertem Haar. Er entsprach kein bisschen dem, was Paige erwartet hatte – was auch immer sie sich vorgestellt haben mochte. Er passte nicht in dieses Büro. Besonders von seinen Augen her, aus ihnen sprach keinerlei Arroganz oder Dünkel. Paige fühlte sich an einen Freund ihres Vaters erinnert, einen Kinderarzt, dem sie mehrere Male begegnet war. Jedes Mal war sie beeindruckt von seinen Augen, denen anzusehen war, dass sie über die Jahre unendlich viel

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