Dystopia
Straßen nicht. Wahrscheinlich würde kaum noch etwas darauf schließen lassen, dass sich an diesem Ort einst eine Stadt befunden hatte.
Er richtete den Zylinder wie eine Pistole nach vorne.
Er drückte auf den AN -Knopf.
Der Lichtkegel leuchtete auf.
Die Iris öffnete sich.
Bethany wagte es nicht, hindurchzusehen. Stattdessen blickte sie ihn an.
«Beschreib mir, was du siehst.»
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Zweiter Teil Umbra
18
Paige lag gefesselt am Boden und wartete.
Wartete auf das Ende.
Alle paar Minuten hörte sie Schritte, die draußen im Flur näher kamen und sich dann in der Ferne verloren, ohne stehenzubleiben. Sie wartete auf die Schritte, die den Flur entlangkommen und draußen vor der Tür haltmachen würden. Wartete auf das Klicken des Türknaufs, das ihr anzeigen würde, dass nun alles vorbei war.
Sie drehte sich auf die Seite, um aus den Fenstern zu schauen. Von hier oben hatte sie die gesamte Vermont Avenue im Blick, auf der lebhafter Betrieb herrschte. Sie sah ein rotes Cabrio, das in die Einfahrt des Ritz-Carlton einbog. Sah, wie ein junges Pärchen ausstieg. Ihre Gesichter waren nicht zu erkennen, dazu waren sie zu weit weg, aber bestimmt lächelten sie. Sie überließen das Cabrio einem Hoteldiener und verschwanden in dem Gebäude.
Ein wunderschöner Tag.
Eine wunderschöne Welt, in der es eine Freude war, am Leben zu sein.
Wie gern hätte sie Gewissheit darüber gehabt, dass all das noch lange Zeit Bestand haben würde – weit länger als vier Monate. Auch wenn sie das selbst nicht mehr erleben würde.
Die Straße verschwamm ein wenig vor ihren Augen. Sie blinzelte die Tränen fort, atmete tief durch und drehte sich wieder auf den Rücken.
Erneut vernahm sie Schritte, die draußen im Flur näher kamen und sich dann entfernten. Sie schloss die Augen und wartete.
Travis rannte über den geborstenen Asphalt der Vermont Avenue nach Süden, auf den Kreisverkehr zu. Bethany hielt mit ihm Schritt. Diesmal achteten sie nicht darauf, ob aus dem Wald irgendwelche bedrohlichen Geräusche drangen. Zur Sicherheit hielt Travis die Flinte in Bereitschaft. Sollte ihm ein Löwe in die Quere kommen, würde er eine längst überfällige Lektion erhalten: nämlich, dass einst eine weit gefährlichere Spezies diese Straßen bevölkert hatte.
Unterwegs arbeitete er im Kopf einen Plan aus. Rief sich den achten Stock der Ruine bildlich vor Augen. Bei ihrem ersten Abstecher hatten sie sich in der nordöstlichen Ecke kurz umgesehen. Die Betonfläche dort war noch ziemlich stabil gewesen, wies lediglich einige dünne Haarrisse auf.
Rückschlüsse darauf, wie der Raum in der Gegenwart aussah, waren daraus unmöglich zu ziehen. Nicht einmal auf seine Größe, die mit der Betonfläche nicht unbedingt übereinstimmen musste. Am sichersten wäre es wohl, die Iris an der äußeren Ecke des Raumes zu öffnen, um so auf jeden Fall hineinzugelangen.
Vorsorglich spielte er das mögliche Geschehen schon einmal im Geist durch. Wenn er aus der Iris in die Gegenwart stieg, würde er die Zimmerecke vor sich und den Raum im Rücken hinter sich haben. Dann würde er sich blitzschnell umdrehen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Mit irgendwelchen Bewaffneten war in dem Raum wohl nicht zu rechnen. Paige würde gefesselt sein, und das Gebäude selbst war im Erdgeschoss gesichert. Dass sich jemand durch ein Loch in der Luft Zutritt zum achten Stock verschaffte, damit dürfte wohl niemand rechnen.
Sollte sich aber außer Paige noch jemand in dem Raum befinden, ob bewaffnet oder nicht, musste der Betreffende auf jeden Fall unschädlich gemacht werden.
Kam dafür die Remington in Betracht? Sie war ziemlich sperrig, was in der beengten Zimmerecke von einigem Nachteil wäre, wenn er dort aus der Iris stieg. Zwischen den Schüssen musste jeweils der Lademechanismus betätigt werden, und mehr als fünf Schuss hätte er nicht. Jeder Volltreffer mit der Flinte wäre zwar garantiert tödlich, doch falls es mehrere Ziele gab und diese obendrein bewaffnet waren, könnte ihn die begrenzte Schusskapazität in Schwierigkeiten bringen.
Sie erreichten den Kreisverkehr. Durchquerten ihn in etwa zwanzig Sekunden und befanden sich weitere zwanzig Sekunden später am Fuß des Ahorns direkt neben der Ruine. Sie kletterten zu den Stahlträgern im ersten Stock hinauf und machten sich auf den Weg zum Treppenaufgang.
«Tauschen wir.» Travis hielt Bethany die Flinte hin. Sie nahm sie entgegen und reichte ihm dafür die SIG Sauer.
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