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Dystopia

Dystopia

Titel: Dystopia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Lee
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Leid gesehen und dennoch nicht resigniert hatten. In Isaac Finns Augen lag ein ganz ähnlicher Ausdruck, eine gewisse Sanftheit, die Paige Rätsel aufgab.
    Was aber jetzt ohnehin keine Rolle spielte. Freundlich wirkende Augen konnten auch einfach genetisch bedingt sein oder auf die unbewusste Nachahmung eines längst verstorbenen Elternteils zurückgehen. Menschen sollte man nach ganz anderen Kriterien beurteilen, und da schnitt Finn denkbar schlecht ab.
    Er hielt eine Tasse Kaffee in der einen Hand und den schwarzen Zylinder, den Paige am Vorabend dem Präsidenten vorgeführt hatte, in der anderen. Er ging zum Schreibtisch hinüber und stellte die Tasse darauf ab. Dann drehte er sich zu Paige um und musterte sie. Prüfend irgendwie, abwägend. Bis er zu einem Entschluss gelangte.
    «Lösen Sie ihr die Fußfesseln», sagte Finn.
    Einer der beiden Wachposten kam herüber, zog ein Klappmesser aus einer Scheide an seinem Gürtel, klappte die Klinge heraus und schnitt den Kabelbinder an Paiges Knöcheln durch. Dann kehrte er zu seinem Posten an der Tür zurück.
    Finn starrte sie kurz weiter an und tippte dann mit dem Finger gegen den Zylinder. «Der Präsident hat mir eingehend geschildert, wie Sie ihm dieses Gerät demonstriert haben. Man könne gefahrlos durch die projizierte Öffnung steigen, haben Sie ihm gesagt.»
    Paige nickte.
    «Vorgeführt haben Sie ihm das allerdings nicht.»
    «Das war nicht nötig. Er hat auch so gesehen, wie es funktioniert.»
    «Ich möchte, dass Sie es mir vorführen. Ich möchte gern selbst sehen, wie eine Person hindurchsteigt.»
    Er trat an den langgezogenen Tisch aus Walnussholz, der hinter dem Sofa stand, legte den Zylinder darauf ab, links und rechts abgestützt durch zwei in Leder gebundene Bücher, die bereits dort gelegen hatten, und richtete die Linse auf die gut drei Meter entfernten Fenster an der Südseite.
    Er legte den Finger auf den AN -Knopf und sah Paige mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an, wie um sicherzugehen, dass er alles richtig machte.
    «Ich habe ihn ja nun wirklich unmissverständlich beschriftet», sagte sie.
    Finn drückte auf den Knopf.
    Der Lichtstrahl schoss heraus und projizierte die Öffnung dicht vor die Fensterfront.
    Paige behielt Finn aufmerksam im Auge. Seine Reaktion verriet, dass er den Zylinder bisher noch nicht in Aktion erlebt hatte. An die zehn Sekunden lang stand er reglos da und starrte die Öffnung mit ausdrucksloser Miene an. Dann setzte er sich in Bewegung und ging darauf zu, wobei er sorgsam Abstand zu dem Lichtkegel hielt. Als sie und die anderen das Gerät vor ein paar Tagen das erste Mal angeschaltet hatten, hatte Paige sich genauso verhalten.
    Finn trat von rechts bis auf dreißig Zentimeter an die Öffnung heran. Er starrte kurz hindurch, überwand dann seine Scheu vor dem Lichtstrahl und trat unmittelbar vor die kreisrunde Öffnung, um einen Blick hinaus auf die Ruinen zu werfen. Paige sah, wie er langsam, gerade noch wahrnehmbar, den Kopf schüttelte.
    «Mein Gott, es funktioniert», flüsterte er, so leise, dass Paige es beinahe überhört hätte.
    Dann wandte er sich zu ihr um. Winkte sie zu sich.
    «Tun Sie’s», sagte er. «Steigen Sie hindurch.»
    Sie wusste genau, was passieren würde, wenn sie seiner Aufforderung nachkam. Drei Sekunden lang überlegte sie, was für andere Möglichkeiten ihr blieben. Keine. Und es kam auch nicht darauf an, wie es dann mit ihr weiterging. Einzig auf Bethany kam es jetzt an, darauf, ob sie es geschafft hatte, Border Town mit dem zweiten Zylinder zu verlassen. Paige hätte zu gerne gewusst, ob ihr das gelungen war. Es wäre ein beruhigender Gedanke gewesen, und Gedanken dieser Art hatte sie jetzt bitter nötig.
    «Gut», sagte sie.
    Sie stand auf, ging um das Sofa herum und dann hinüber an die Öffnung, wo Finn für sie beiseitetrat. Sie legte ihre nach wie vor gefesselten Hände auf den unteren Rand und starrte hinaus auf den Wald, der sich unter ihr in alle Richtungen dehnte. In etwa einer Meile Entfernung konnte sie das Washington Monument erkennen, das imposant aus den Baumwipfeln in die Höhe ragte. Und das war auch schon alles. Das Weiße Haus war völlig hinter den Bäumen verborgen, nicht einmal die Kuppel des Kapitols war noch zu sehen. Paige fiel ein Ausflug aus Highschool-Zeiten ein, den sie mit ihrer Klasse ins Kapitol unternommen hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte sie erfahren, dass die Kuppel aus Gusseisen bestand, und auch, wie viel sie wog. Damals hatte sie es kaum glauben

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