E-Book - Geisterritter
der Vollbart in mein Leben gestolpert war, war mir nach sehr, sehr lauter Musik und nicht nach Friede auf Erden . Umso mehr erstaunte mich, dass Angus, der sich ständig prügelte und bei jedem Rugbyspiel die Beherrschung verlor, solche Engelsharmonien von sich gab und daran offenbar auch noch Spaß hatte. »Wie kannst du nur in dieser idiotischen Kluft herumlaufen?«, hatte ich ihn gefragt, als ich ihn zum ersten Mal seine Tracht anlegen sah (ich war selbst gerade beim Aufnahmetest für die Choristen durchgefallen). »Whitcroft, du hast keine Ahnung!«, hatte Angus nur mit einem mitleidigen Lächeln geantwortet – und sich ein paar Hundehaare von der grünen Kluft gewischt. Vermutlich hatte er recht und leider traf das nicht nur auf Choristentrachten zu. Von Mädchen verstand ich definitiv nichts, und so brachte mich das Warten mit Ella in der dunklen Kammer fast ebenso aus dem Gleichgewicht wie Stourtons hohles Flüstern.
»Ja. Ja, es klingt wirklich nicht schlecht«, murmelte ich – und zog hastig den Ellbogen ein, als ich Ellas Arm streifte. Was tust du hier, Jon Whitcroft?, dachte ich. Willst du dich allen Ernstes zum Narren machen, indem du versuchst, einen toten Ritter aus dem Schlaf zu wecken?
Die Abendmesse dauerte kaum eine Stunde, aber mir schien es, als wäre ein Jahr vergangen, als der Gesang und die Orgel endlich verstummten und stattdessen der Klang von Schritten und gedämpftem Gelächter zu uns hereindrang.
Sie gingen.
Wir hörten, wie die Türen verschlossen wurden, hörten die einsamen Schritte des Küsters, der das Licht ausmachte, und dann nichts als Stille.
Wir waren allein in der Kathedrale.
Allein mit den Toten.
7
Der tote Ritter
A ls Ella die Tür öffnete, roch die Luft nach geschmolzenem Kerzenwachs, und der Gesang der Choristen schien immer noch zwischen den Säulen zu hängen.
Die Dunkelheit ließ die Kathedrale nur noch größer erscheinen. Es war, als würde die Nacht sie erst wirklich zum Leben erwecken, zu ihrem ganz eigenen Leben, und es hätte mich nicht überrascht, wenn einer der Heiligen von seinem Podest gestiegen und uns gefragt hätte, was in Teufels Namen (na ja, wohl eher: in Gottes Namen) wir hier um diese Zeit machten.
Ja, was schon? Zum Narren machen wir uns!, dachte ich, als Ella mir eine der Taschenlampen in die Hand drückte, die sie vorsorglich mitgebracht hatte. Sie hatte offenbar immer noch keine Zweifel an ihrem Plan.
»Was meinst du?«, fragte sie, während sie den Strahl ihrer Taschenlampe an den Säulen entlangwandern ließ. »Sollen wir bisMitternacht warten? Zelda sagt, die meisten Geister erscheinen immer noch am liebsten um die Zeit.«
»Mitternacht?« Ich sah auf die Uhr.
Das waren noch fast vier Stunden!
»Ach was!«, sagte Ella. »Lass uns ihn jetzt rufen. Komm.«
Denk an Stourton, Jon!, dachte ich, während ich ihr nachstolperte. Das hier kann kaum schlimmer werden!
Draußen hatte sich offenbar der Mond einen Weg durch die Wolken gebahnt. Sein Licht fiel auf Longspees Abbild und färbte den Stein weiß wie Schnee. Er sah tatsächlich aus, als ob er schlief. Die behandschuhte Hand lag auf dem Knauf seines Schwertes, als hätte er es eben erst aus der Hand gelegt.
Ella nickte mir aufmunternd zu und trat ein paar Schritte zurück.
Komm schon, Jon. Sie verzeiht dir nie, wenn du es nicht wenigstens versuchst.
Ich trat so dicht an den Sarkophag heran, dass ich nur die Hand hätte heben müssen, um Longspees Handschuh zu berühren.
»Jon!«, flüsterte Ella. »Er ist ein Ritter! Du musst dich hinknien!«
Hinknien?
Auch das noch. Ich ließ mich auf die Knie sinken.
»Mein … ehm … mein Name ist Jon Whitcroft.«
Meine Stimme schien sich in der Stille zu verlieren, und so sehr ich mir auch Mühe gab, sie tiefer klingen zu lassen – sie blieb hell wie die eines Elfjährigen.
»Ich … ich bin hier, um dich um Hilfe zu bitten. Jemandwill mich umbringen. Und weil er genauso tot ist wie du, dachte Ella …«
Ich verstummte. Nein. Es war einfach zu albern. Die Steinfliesen waren kalt wie Schnee, und der Mond färbte Longspees Gesicht immer noch leichenweiß, als wollte er mich daran erinnern, dass ich vor einem toten Mann kniete. Ich wollte nach Hause und alles vergessen, was in den letzten Monaten passiert war, einschließlich Stourton und dem Vollbart.
Aber als ich mich aufrichtete, hörte ich Ella wieder hinter mir flüstern: »Was machst du? Bleib, wo du bist! Weißt du denn gar nichts über Ritter? Die haben stundenlang so
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