E-Book - Geisterritter
auf der Zunge. Ich liebte William Longspee, aber ich hatte seine Dunkelheit gesehen und war nicht mehr sicher, ob das Licht immer stärker in ihm war. Ich hatte an mir selbst erlebt, wie stark die Dunkelheit in uns allen sein kann, als ich auf dem Kirchturm von Kilmington gegen Stourton gekämpft hatte.
»Ich hab den Choristen getroffen. Den, den du auch gebeten hast, dein Herz zu finden.« Ich flüsterte die Worte fast, aber sie wurden laut und schwer in der weiten Leere der Kathedrale.
»Ich verstehe.«
Es war so viel Müdigkeit in seiner Stimme. Und ich sah die Mauern der Kathedrale so deutlich durch seinen Körper, als hätte all die Traurigkeit und Schuld kaum etwas von ihm übrig gelassen.
»Was hat er dir erzählt?«
Es verlangte mehr Mut, es auszusprechen, als gegen Stourton zu kämpfen.
»Dass du es warst, der ihn umgebracht hat. Ich weiß«, fügte ich hastig hinzu, »ich hätte ihm nicht glauben dürfen! Es war bestimmt alles ganz anders –«
»Nein, Jon. Es ist die Wahrheit.«
Mir wurde so kalt, als hätte Stourton mir seine knochige Hand aufs Herz gepresst. Longspee war kaum zu sehen in der Dunkelheit, doch seine Worte schrieben sich in die Stille, als wollte jedes einzelne sich mir ins Herz ätzen.
»Aber … warum?« Ella trat an meine Seite. Es war das erste Mal, dass ich ihre Stimme zittern hörte.
William blickte an den Säulen entlang. »Er sagte, er hätte mein Herz gefunden und dass er es mir nur unter einer Bedingung zurückgeben würde. Wenn ich seinen Lehrer töte.«
Er trat auf den Sarkophag zu, auf dem sein Abbild lag, so edel und friedvoll in seinem steinernen Schlaf.
»Er sagte: ›Er ist ein alter Mann‹«, fuhr William mit fast unhörbarer Stimme fort. »›Vermutlich bleibt ihm schon das Herz stehen, wenn du dich ihm nur zeigst.‹ ›Warum willst du ihn tot sehen?‹, fragte ich. Er lachte. ›Weil ich ihn nicht mag!‹, antwortete er. Das hatte ich schon einmal gehört … von einem König. John sagte solche Dinge. ›Schaff ihn mir aus dem Weg. Ich mag ihn nicht.‹ Und es war immer jemand da, der seinen Wunsch auf der Stelle erfüllte. Manchmal war ich es. Ich war es leid. Ich war es so leid, Befehle von einem verdorbenen Jungen entgegenzunehmen.«
Longspee streckte die Hand aus und berührte das steinerne Gesicht, das dem seinen so sehr glich. Seine Finger tauchten hinein, als wäre der Stein ebenso substanzlos wie er.
»Ich sagte ihm, dass ich seine Bedingung nicht erfüllen würde und verlangte mein Herz zurück. Er lachte mich aus. ›Nein, in dem Fall vergrab ich es wieder‹, sagte er. ›Ich hoffe, das wird dich so schwach und unglücklich machen, dass du deinen Eid nie erfüllen kannst. Und deine Frau wirst du auch nie wieder sehen. Was soll sie auch anfangen mit einem herzlosen Ritter?‹«
Longspee fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Ich zog mein Schwert in meiner hilflosen Wut. Er stolperte zurück und stürzte rücklings aus dem Fenster, vor dem er stand. Er brach sich den Hals. Sein Schrei schrieb mir ›Mörder‹ auf die Stirn, und ich spürte, wie die Dunkelheit mir für immer die Seele schwärzte. Nur einer mehr, William, sagte ich mir. Es war nur einer mehr! Du hast so viele getötet und dieser war wahrlich schlecht! Aber die Dunkelheit wich nicht mehr von mir, und ich verlor alle Hoffnung, sie mir je wieder von der Seele zu waschen. Oder Ella wiederzusehen. William Longspee ist nichts alsein Schatten. Ein herzloser Ritter. Gefesselt an diese Welt für alle Zeit.«
Er sank auf die Knie, vor seinem Grabmal und all den Heiligen und Sündern, die mit ihren Steingesichtern auf ihn herabblickten. Die Mauern der Kathedrale schienen Worte des Trostes zu flüstern, und ihre Säulen streckten sich, als wollten sie die Schuld des Ritters mit ihm tragen. Aber die Nacht goss Dunkelheit durch die Fenster und nur Ellas Taschenlampe verbreitete noch etwas Licht.
Ella trat so zögernd auf ihn zu, als wäre sie nicht sicher, ob er sie fortschicken würde.
»Du hast Jon und mich gerettet«, sagte sie, »und Zelda und Matt. Ich finde, dein Eid ist längst erfüllt, und was deine Frau betrifft – irgendwann siehst du sie bestimmt wieder! Denn Jon und ich werden dein Herz finden und es zu ihren Füßen begraben. Das versprech ich, so wahr ich Ella Littlejohn heiße. Und nun steh bitte auf!«
17
Die Insel der Choristen
I ch geb es zu: Der Vollbart stellte keine lästigen Fragen, als Ella ihm am nächsten Morgen eröffnete, dass wir noch einmal seine
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