E-Book - Geisterritter
Aber ich zwang mich, wie abgemacht zu warten, bis klar war, wohin er Ella führte.
Das Wohin wurde sehr bald klar.
Aleister hielt auf die Insel zu.
Der Name ist sehr irreführend. Die Insel ist nicht mehr als ein flacher Hügel, den ein Bach, der über das Schulgelände fließt, bei Regen mit Schlamm und flachem Wasser umgibt. Die Erst- und Zweitklässler spielen dort, dass sie schiffbrüchig oder Piraten sind, und die Drittklässler haben einen Damm aus Zweigen und totem Holz gebaut, um sie ab und zu zu überfallen. Nach dem Regen der letzten Wochen war er der einzige Zugang. Ich kroch aus meinem Versteck, sobald Ella hinüberbalanciert war, und schlich so leise über den dunklen Rasen, wie es mich Jahre Versteckenspielen mit meinen kleinen Schwestern gelehrt hatten. Der Damm war allerdings eine fast unlösbare Aufgabe. Die Zweige knackten so laut, dass ich bei jedem Schritt innehielt, doch Ella hob die Stimme, um die verdächtigen Geräusche zu übertönen, und schließlich stand ich auf der Insel und sah Aleisters blasse Gestalt hinter den Büschen.
»Ich hab die Urne dort bei den Steinen vergraben«, hörte ich ihn sagen. »Damals sah hier alles ziemlich anders aus, aber ich bin sicher, dass das der Platz ist.«
Damals. Natürlich! Er hatte das Herz nicht wieder ausgraben können, nachdem er sich zu Tode gestürzt hatte, also lag es seit mehr als hundert Jahren in seinem Versteck – falls es inzwischen nicht jemand gefunden hatte.
Ich lugte durch die Büsche und sah, wie Ella die Schaufel unter der Jacke hervorzog, die sie auch in Stonehenge dabeigehabt hatte. Sie dachte wirklich an alles.
»Wie sieht die Urne aus?«, fragte sie.
»Sie ist aus Blei, mit magischen Symbolen auf dem Deckel. Aber sie gehört mir, vergiss das nicht!«
»Natürlich«, sagte Ella und begann zu graben.
Aleister stand direkt hinter ihr. Es war so schwer, ruhig in meinem Versteck zu bleiben, während er Ella mit seinen Geisteraugen anstarrte, aber ich hatte ihr versprechen müssen, dass ich mich erst zeigte, wenn sie ganz sicher war, dass der kleine Mistkerl sie an den richtigen Ort geführt hatte.
Rühr sie nicht an, Aleister Jindrich!, dachte ich. Untersteh dich!
Er kann sie nicht anfassen, du Dummkopf!, erwiderte ich mir selbst. Aber allzu viel half das nicht.
»Also ich seh nichts. Bist du sicher, dass es hier war?«, fragte Ella nach einer Weile.
»Ja, ganz sicher. Es muss da sein.«
Ella stieß die Schaufel erneut in die regenfeuchte Erde. Es kam mir vor, als grübe sie Stunden, aber plötzlich hörte ich ein gedämpftes Klirren. Metall gegen Metall. Ella ließ die Schaufel fallen und griff in das tiefe Loch, das sie gegraben hatte.
»Ich fühl sie!«, rief sie. »Eine Urne. Wie du gesagt hast.«
»Siehst du?« Aleister leuchtete vor Stolz wie ein Champignon im Dunkeln – als wäre es die größte Errungenschaft, das Herz eines toten Mannes zu stehlen. »Also?«, schnurrte er. »Wo bleibt mein Kuss?«
Ella warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
»Erst mal muss ich das Herz sehen. Was, wenn das da unten nichts weiter als eine alte Keksdose ist?«
Aleisters blasses Gesicht bedeckte sich mit Zornesflecken. »Es IST das Herz und du gibst mir einen Kuss! Jetzt!«
Ella richtete sich auf. Sie war immer noch größer als er.
»Ach ja? Und wie soll das gehen? Du bist ein Geist. Aber selbst wenn du aus Fleisch und Blut wärst – ich würde eher alle Kröten meiner Großmutter küssen als dich.«
Er versuchte, sie zu packen. Aber seine Arme griffen mitten durch ihren Körper hindurch. Als Ella ihn zurückstoßen wollte, funktionierte das natürlich ebenso wenig.
»Lass sie in Ruhe, du dreckiger toter Dieb!«, schrie ich und stolperte so hastig aus dem Gebüsch, dass ich mit meinem Fuß geradewegs in das frisch gegrabene Loch trat. Ich verdrehte mir den Knöchel, als ich ihn wieder herauszerrte, aber ich schaffte es trotzdem irgendwie, mich schützend vor Ella zu stellen. Sie warf mir dafür einen so erleichterten Blick zu, dass es einen gebrochenen Knöchel wert gewesen wäre.
»Hol du das Herz!«, sagte ich zu ihr, während ich Aleister nicht aus den Augen ließ. »Um den kleinen Mistkerl kümmere ich mich!«
Was sich wirklich gut anhörte, nur hatte ich leider nicht die blasseste Idee, wie ich das anstellen sollte. Natürlich hätte ich Longspee rufen können. Aber wie konnte ich mich allen Ernstes seinen Knappen nennen, wenn ich es nicht mal mit einem Geist aufnahm, der einen halben Kopf kleiner war als
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