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er, mir alles zu erzählen, an das er sich erinnern konnte, bevor es für immer verloren war.
Wie ich meinen ersten Zahn verlor. Meinen ersten BH bekam (diese Geschichte bereitete ihm größtes Vergnügen). Seine legendären Weihnachtsfeste, damals, als er und meine Mutter noch ein Paar waren. Seine Mittagessen im Vier Jahreszeiten und Le Cirque. Die Zeit, als er sich mit E. L. Doctorow herumschlug. Seine Fehde mit dem Herausgeber vom
Harper’s
. Sein geheimer Drei-Tage-Flirt mit Ava Gardner. Seine Zeit in Yale. Wie sehr er sich wünschte, ich möge alle seine Bücher lesen und seine Leidenschaften teilen. Wie sehr er sich wünschte zu sterben, bevor es zu schlimm mit ihm wurde. Ich hörte mir seine Bekenntnisse an. Wie er schon fast erwog, eine zweite Ehe einzugehen und Lois Wharton zu heiraten, es dann aber ließ, weil ich nie ihre Haare durcheinanderbringen durfte, wenn ich sie umarmte.
Und nach jedem Bekenntnis und jedem Zusammenbruch ging ich wieder nach Hause. Mit jeder Geschichte spürte ich, wie sich mein Inneres mit den Gezeiten über den Balkon davonstahl. Es stahl sich davon, bis ich mich gegen den Schmerz so hart gemacht hatte, dass ich nicht einmal mehr sagen konnte, ob noch irgendetwas in mir war. Hier, auf der Insel bei Roland Riggs, hatte ich plötzlich den verzweifelten Wunsch, die Stimme meines Vater zu hören.
„Stratford Oaks.“
„Stellen Sie mich bitte zu Jack Hayes durch.“
Vier Rufzeichen, dann seine müde Stimme. „Hallo?“ So schwach.
„Daddy? Ich bin’s, Cassie“, sagte ich absichtlich langsam und laut.
„Cassie …“ Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er versuchte, meinen Namen einzuordnen und ein Gesicht dazu zu finden. Ich hörte die Irritation. Dann aber, zum Glück: „Cassie. Meine Tochter. Cassie. Ja, Cassie.“
„Daddy, ich möchte nur, dass du weißt, dass ich dich liebe. Es tut mir Leid, dass ich dich diese Woche nicht besucht habe, aber ich bin unterwegs. Ich war mir nicht sicher, ob du daran denkst.“
„Du warst gar nicht hier, um mich zu besuchen?“
„Nein, Dad. Ich bin verreist.“
„Verreist wohin?“
„Was Geschäftliches, Dad. Wegen einem Buch. Einem schlechten Buch. Nein, vielleicht kein schlechtes Buch, aber auch keins, das wir veröffentlichen können. Dad?“
„Ja, Cassie?“
„Erinnerst du dich, wie du früher immer meine Englischhausaufgaben durchgesehen hast? Und immer musste ich sie danach noch mal überarbeiten … aber wenn ich das getan hatte, hast du mir immer eine Eins gegeben.“
„Habe ich das?“
„Ja, das hast du. Ich danke dir, Dad. Das wollte ich dir sagen. Ich lasse dich jetzt besser wieder in Ruhe.“
„Cassie?“ Seine Stimme wurde etwas kräftiger.
„Hm?“
„Manche Bücher sind nur dazu bestimmt, zum Autor zu sprechen.“
„Was meinst du damit?“
„Der Autor arbeitet in seinem Kopf etwas durch, und der Lektor ist nur der zufällige Zeuge.“
„Was würdest du in so einem Fall machen?“
„In was für einem Fall?“
„Schon gut, Daddy. Nichts weiter. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch, mein Schatz.“
Ich legte den Hörer auf. Was genau wollte Riggs auf seinen Seiten sagen? Und wer war Roland Riggs Mutter Bekenntnis? Maxine? Maria? Oder ich? Ein Zeuge in einem Wirrwarr epischen Ausmaßes.
14. KAPITEL
N och mehr Erinnerungen.
„Wollen Sie, Cassandra Hayes, diesen Mann zu Ihrem rechtmäßig angetrauten Ehemann nehmen?“
Elvis, der Standesbeamte, sah mich erwartungsvoll an. Ich bemerkte die Schweißflecken in der Achselhöhle seines paillettenbesetzten hautengen Overalls. An seinen Schläfen lief ein schmales Rinnsal Schweiß vermischt mit Haarfestiger und Gel. Ich blickte auf meinen zukünftigen Gatten, den Mann, mit dem mich ein Beamter der Stadt Las Vegas im Staat Nevada in weniger als sechzig Sekunden für verheiratet erklären würde.
„Logisch.“
Elvis zuckte zusammen.
„Und wollen Sie …“, der Beamte stolperte über den Namen, „… wollen Sie … Johnny Acid, diese Frau zu Ihrer rechtmäßig angetrauten Ehefrau nehmen?“
Er nickte.
„Sie müssen schon mit ‚Ich will‘ oder ‚Ja‘ oder dergleichen antworten“, sagte Elvis.
„Klar, sicher.“
„Nun, dann erkläre ich Sie kraft meines Amtes, zugelassen vom Staat Nevada und von Elvis Presleys Gnaden, zu Mann und Frau. Fang an, Earlene!“
Auf dieses Kommando begann eine etwa achtzigjährige bucklige Organistin, mit dem Fuß zu wippen und die ersten Akkorde auf dem Instrument anzustimmen. Ihr seniler, in
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