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José.
Selbstverständlich hatte ich nie in meinem Leben ein Haustier besessen, geschweige denn ein Kaninchen. Aber es war verrückt, wie sehr José meine Trauer mitzubekommen schien. Sie überkam mich wie Sturmwellen, die gegen den Fels donnerten und mich unter Wasser drückten, bis ich mich mit Mühe wieder nach oben kämpfte, um einmal Luft zu holen und doch nur eine Ladung Salzwasser neuen Kummer schluckte. In solchen Momenten hoppelte José über mein Bett, das ich nur noch im äußersten Notfall verließ, und ich drückte ihn an mich oder ließ ihn an meinem Glas Tequila schnuppern, dem er sich sehr skeptisch näherte, den Kopf vor und zurückziehend, und schließlich so etwas wie nieste. Dann sahen wir zusammen fern, und José stubste mir immer wieder gegen die Wange.
Nach Tagen, die ich nicht ans Telefon ging, Tagen voller Tequila und Kaninchenstüber, musste ich mir eingestehen, dass ich in miserabler Verfassung war.
„José, nach meiner Karriere im Schnulzen-Lektorat habe ich immer angenommen, ich würde wie eine dieser verrückten alten Frauen mit fünfzig Katzen und einem Büchereiausweis enden. Nicht, dass ich jemals eine Katze haben würde. Aber es geht um das Klischee. Alte Frauen mit einem Haufen Katzen. Das ist ein Bild. So ähnlich wie: Die vermehren sich wie die Karnickel. Ein Klischee. Ich will dich keinesfalls beleidigen, José, aber eine alte Frau mit einem Kaninchen und der fünften leeren Flasche Tequila an ihrem Bett klingt einfach nicht gut. Alte Frau mit einem Kaninchen. Das hört sich doof an.“
José nahm es mir nicht krumm.
Am Wochenende rief Roland an. Ich nahm den Hörer ab, obwohl ich Lous Anrufe vorher tagelang ignoriert hatte.
„Cassie?“
„Hm?“
„Lou hat mir von Ihrem Vater erzählt. Es tut mir sehr, sehr Leid. Kummer kann einen gefangen halten.“
„Sie haben in der Abteilung wohl die ein oder andere Erfahrung gemacht …“
„Ich habe Jahre über Jahre verschwendet, Cassie. Lassen Sie nicht zu, dass die Trauer Sie auffrisst. Fahren Sie nach London.“
„London? Ich glaube nicht.“
„Dann fahren Sie nach Paris. Fahren Sie zum Mond. Aber gehen Sie nicht dorthin, wo ich war.“
„Ich werde darüber nachdenken.“
„Wie geht es José?“
„José? Er ist inzwischen mein bester Freund.“
„Er und die fünf Flaschen Tequila, stimmt’s?“
„Wir haben uns in den zwei Wochen ganz gut kennen gelernt, was?“
„Na ja … vergiss Maria und mich nicht. Und
Lou.“ Ich musste schlucken. „Werd ich nicht.“
Nachdem ich aufgelegt hatte, weinte ich in Josés Fell. Ich vermisste meinen Vater. Selbst wenn das nur hieß, seine Hand zu halten und er mich nie wieder erkennen würde. Es gibt Situationen im Leben, da nimmt man, was man kriegen kann. Und manchmal ist das, was man kriegen kann, nicht genug.
30. KAPITEL
V öllig unerwartet regte sich eines Abends, es war schon relativ spät, der nimmermüde Schwanz noch einmal. Mein Ex-Mann, der inzwischen semiberühmte Rockstar John Dillinger, rief plötzlich an. In der Annahme, dass es Lou war, der ganz sicher nicht aufhören würde, mich mit seinen Telefonaten zu verfolgen, nahm ich nach dem dritten Klingeln ab.
„Cass, mein Schatz.“
Wie in einem Traum fühlte ich mich in meine frühen zwanziger Jahre zurückversetzt, zurück in die Zeit, als ich noch eine andere war.
„Johnny?“ Ich musste lächeln und stellte ihn mir mit seinen blonden Locken vor, die er inzwischen meistens glatt gegelt und in alle Richtungen abstehend trug.
„Ich hab von der Sache mit deinem alten Herrn gehört. In der New York Times stand ein Nachruf. Tut mir total Leid, Schatz. Ist auch für mich so, als hätte mir jemand in die Eier getreten.“
Bei so viel Poesie fragte ich mich, wie ich ihn je verlassen konnte.
„Danke, Johnny.“
„Bist du soweit okay?“
Ich sah auf meinen Nachttisch mit den zig Gläsern, in denen jeweils noch ein Rest Tequila war. José schlief auf meinem Bauch.
„Okay ist derzeit ein relativer Begriff in meinem Leben, Johnny. Und dennoch … nein, ich würde nicht sagen, dass ich soweit okay bin.“ Ich schluchzte. „Ich saufe wie ein Loch und spreche mit einem Kaninchen. Es würde zu weit führen, dir das jetzt zu erklären, aber um deine Frage noch einmal zu beantworten: Nein, nichts ist in Ordnung, gar nichts. Aber da kannst du mir auch nicht helfen. Niemand kann das.“
„Ja, ich kenn das. Aber manchmal tut es trotzdem gut zu wissen, dass sich jemand um einen sorgt, weißt du. Das kann
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