Éanna - Ein neuer Anfang
aufgeregt und deutete auf einen kleinen Segler, der schnell wie ein Pfeil durch die See schnitt und Kurs auf die Boston Glory hielt. »Du musst nicht mehr lange auf unseren neuen Anfang warten! Bald haben wir wieder Land unter den Füßen, Éanna!« Er lachte ausgelassen und strahlte sie an, und als Éanna ihm ins Gesicht blickte, wurde ihr warm ums Herz und alle Zweifel, ob es richtig gewesen war, sich mit ihm zu versöhnen und ein Leben mit ihm zu planen, waren in diesem Moment wie weggeweht.
»Schön wär’s, wenn es so schnell ginge, Rotschopf«, machte sich hinter ihnen sofort eine raue Männerstimme mit grimmigem Tonfall bemerkbar. »Vor der Ausschiffung in den Docks wird es für so manchen von uns noch bitteres Heulen und Zähneklappern geben, so wahr ich Michael Macaulay heiße.«
Éanna achtete nicht darauf, was der Mann sagte. Genau wie Hunderte andere Augenpaare verfolgte sie gebannt, wie die schnelle Hafenschaluppe mit einem eleganten Manöver längsseits kam. Gleich darauf wurde ein Beiboot zu Wasser gelassen und mit vier Ruderern bemannt, die einen hochgewachsenen Mann in weißer Uniform mit kräftigen Riemenschlägen an die Luvseite des Auswandererschiffes brachten.
Emily stieß die Freundin von der Seite an. »Hast du schon mal einen Mann in solch einer prächtigen Uniform gesehen, Éanna?«, entfuhr es ihr staunend. »Ob wohl alle Amerikaner so gut aussehen?«
Éanna lachte und war nicht weniger beeindruckt vom ersten amerikanischen Mann, den sie in ihrem Leben zu Gesicht bekam. Dass Gregory Richardson, der Kapitän der Boston Glory , und die meisten Mitglieder seiner Mannschaft ebenfalls Amerikaner waren, zählte für sie und ihre Landsleute in diesem Moment nicht. Dieser Lotse, der Augenblicke später mit der scheinbar mühelosen Eleganz und Leichtigkeit eines trainierten Turners die Strickleiter emporkletterte, hinterließ bei den abgemagerten und zerlumpten irischen Auswanderern einen tiefen Eindruck und bestätigte ihre Vorstellung von der neuen Heimat als dem Land des Reichtums, der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten.
Mit offenen Mündern begafften sie den jungen Mann und so manch einer hätte sich nicht gewundert, wenn er drei Füße und an jeder Hand sechs Finger gehabt hätte, so sehr beeindruckten sie seine Gestalt und sein selbstsicheres Auftreten. Wie stattlich und wohlgenährt er aussah! Wie gesund und weiß sein Gebiss war, fast so weiß wie seine Uniform! Nicht ein einziger fauler Zahn und nirgends eine Zahnlücke! Und wie freundlich er, ein bedeutender Vertreter der amerikanischen Obrigkeit, in die Runde lächelte, während er mit federnden Schritten durch die Gasse schritt, die die zurückweichenden Passagiere auf dem Deck für ihn bildeten. Wie anders waren da die Amtsmänner in der Heimat gewesen, die die einfache Bevölkerung Verachtung und Unterdrückung hatten spüren lassen.
»Na, wir werden wohl auch in New York noch genug dreckige Leute zu sehen bekommen«, stellte Brendan mit einem leicht neidischen Unterton in der Stimme fest. »Richtige Arbeit macht nun mal schmutzig!«
»Aber es ist trotzdem schön, so empfangen und begrüßt zu werden«, erwiderte Éanna zufrieden.
»Und wer sagt, dass die Aufgabe, ein Schiff in einen dicht befahrenen Hafen zu lotsen, keine richtige Arbeit ist?«, fügte Emily hinzu.
Brendan zuckte die Achseln und schwieg. Aber Éanna wusste genau, dass in seinen Augen nur derjenige zählte, der mit seiner Hände Arbeit etwas Sinnvolles schaffte – wozu das Einweisen eines Schiffes in einen Hafen für Brendan sicher nicht gehörte. Wahrscheinlich ebenso wenig wie das Verfassen von Büchern, ging es Éanna durch den Sinn.
Patrick O’Brien hätte in einigen Jahren die Brauerei seines Onkels übernehmen können, doch er hatte ein Leben in sattem Wohlstand ausgeschlagen, weil er davon träumte, Schriftsteller zu werden. Brendan hatte dafür nur Verachtung übrig, auch wenn er paradoxerweise wie jeder Ire eine gut erzählte Geschichte sehr wohl zu schätzen wusste.
Der Lotse nahm seine Arbeit auf und wenig später erreichte die Boston Glory unter seiner Führung die geschützte Bucht von New York, die sich vor der Südspitze Manhattans ausdehnte und vom Hudson und East River gespeist wurde. Und dann lag sie auf einmal direkt vor ihnen – die geschäftige, vor Leben pulsierende Hafenstadt New York.
Keiner der Auswanderer hatte bisher Vergleichbares gesehen: Entlang der Bucht und auf den beiden Flüssen, die Manhattan umflossen,
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