Éanna - Ein neuer Anfang
Éanna wie angewurzelt stehen. »Mein Gott, meine Bücher! Die hätte ich unten in meiner Koje jetzt beinahe vergessen!«
Erschrocken drehten sich Brendan und Emily zu ihr um. Bis auf ein wenig Bargeld war das Buchpaket – eine hochwertig gefertigte, sechsbändige Gesamtausgabe der Werke von Sir Walter Scott, die Patrick O’Brien Éanna kurz vor der Abreise nach Amerika geschenkt hatte – das Wertvollste, was sie nach dem Untergang der Metoka noch besaßen. Es war ihr Notgroschen, der ihnen das Überleben sichern würde, wenn ihr Bargeld aufgebraucht war, bevor sie in New York eine Arbeit gefunden hatten.
»Das hätte uns gerade noch gefehlt!«, stöhnte Brendan. »Also dann, sieh zu, dass du schnell zurück ins Zwischendeck kommst, bevor sich jemand in dem Getümmel daran vergreift und damit stiften geht!«
»Wir drei sollten besser unten auf dem Kai auf dich warten!«, sagte Tom Mahony. »Hier oben werden wir zu leicht über den Haufen gerannt und getrennt.«
Éanna wechselte einen Blick mit Brendan, dann nickte sie. »In Ordnung! Aber bleibt bloß in der Nähe der Gangway, damit ich nicht erst lange nach euch Ausschau halten muss!«
»Wird nicht passieren«, versprach Emily.
Entschlossen drehte sich Éanna um und zwängte sich durch die lärmende, wild bewegte Menge zurück zum Niedergang, der hinunter ins Zwischendeck führte.
Beim Hinuntersteigen schlug ihr der stechende Geruch entgegen, der in den letzten Wochen ständiger Begleiter der Zwischendeckspassagiere gewesen war. Es stank nach menschlichen Ausdünstungen, nach Erbrochenem, Urin und Fäkalien, kurz nach Krankheit, Elend und Tod. Und das, obwohl Captain Richardson, kaum dass die Küste von Amerika in Sicht gekommen war, angeordnet hatte, all die modrigen und grauenhaft stinkenden Strohsäcke, Matratzen, Decken und Kissen über Bord zu werfen, die Planken und Kojen mehrmals zu schrubben und das Zwischendeck dann kräftig auszuräuchern, um es vom allergröbsten Dreck und Gestank zu befreien.
Doch Éanna hatte andere Sorgen als den Geruch hier unten. Sie hastete durch den Mittelgang, vorbei an den langen Reihen von Stockbetten, die aus Brettern zusammengezimmert, dabei aber nicht ganz so eng bemessen waren wie die Betten auf der Metoka, wo jeder Auswanderer weniger Platz zum Schlafen gehabt hatte als in einem Sarg.
Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung fand sie das Buchpaket, mehrfach mit Wachspapier umwickelt und mit fester Kordel verschnürt, dort vor, wo sie es zurückgelassen hatte – unter dem zerschlissenen Leintuch in ihrem Bett. Schnell bückte sie sich und nahm es an sich.
»Na, was Wichtiges vergessen, Schätzchen?«, ertönte in diesem Moment eine spöttische Frauenstimme unmittelbar hinter ihr. »Oder hast du vielleicht Brendan aus den Augen verloren und hier nach ihm gesucht? Also unter meinen Rock gekrochen ist er nicht. Aber das kann ja noch kommen, so wie ich ihn einschätze, was meinst du?«
Éanna wusste nur zu gut, wem die hämische Stimme gehörte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Niemand anderes als die Dirne Caitlin stand vor ihr im Gang, die linke Hand aufreizend unterhalb des geschnürten offenherzigen Mieders in die Hüfte gestützt, mit der anderen einen kleinen, ramponierten Sonnenschirm haltend.
Caitlin ausgerechnet jetzt noch einmal zu begegnen, war das Letzte, was Éanna sich gewünscht hatte. Jedes Mal, wenn sie ihr während der Überfahrt begegnet war, war der Zorn wie bittere Galle in ihr aufgestiegen und auch diesmal erging es ihr nicht anders. Nie würde sie ihr verzeihen können, dass sie sich in Dublin an Brendan herangemacht und ihn in ihr Bett gelockt hatte. Dabei waren Caitlin und sie einst sogar Freundinnen gewesen und in Irland gemeinsam über die »Straße der Sterne« gezogen. Doch diese Zeit schien inzwischen unermesslich weit zurückzuliegen.
Éanna fixierte ihr Gegenüber mit grimmiger Miene. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen, Caitlin! Schon lange nicht mehr. Also geh mir aus dem Weg und verspritz dein Gift woanders!«
Caitlin lachte. »Aber, aber, Kleines!« Gekünstelt zog sie die Augenbrauen nach oben und fuhr hämisch fort: »Wer wird denn gleich so ausfällig werden? Das kostet doch nur unnötig Kraft und das bisschen, was dir davon geblieben ist, wirst du jetzt bitter nötig haben, so wie du aussiehst. Bist ja nur noch Haut und Knochen. An einer wie dir wird sich Brendan bloß die Haut blutig schrammen!«
Éanna ballte die Fäuste und hätte Caitlin das gemeine Lächeln am liebsten
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