Éanna - Ein neuer Anfang
ums andere Mal war es Patrick O’Brien gewesen, der Éanna aus den schlimmsten Notlagen gerettet hatte, ja, dem sie sogar ihr Leben verdankte. Im Gegenzug hatte sie ihm das ihre gegeben – wenn auch auf andere Weise, als sie sich hatte vorstellen können. Denn Patrick hatte in seinem ersten Buch die Hungersnot in seiner Heimat und das alltägliche Elend der Kleinpächter verarbeiten wollen und er hatte Éannas Schilderungen über all das, was sie erlebt hatte, bei ihren gemeinsamen Sonntagen in Dublin begierig gelauscht.
Éanna zögerte und wartete, bis Patrick bei ihr angelangt war. Er war ihr inzwischen so wohlvertraut, dass sie ihn wohl überall erkannt hätte. Er trug einen leichten hellbraunen Anzug mit kurzen Rockschößen. Das volle schwarze und leicht gewellte Haar war sorgfältig frisiert, nur über der Stirn standen einige kurze widerspenstige Strähnen nach oben. In der rechten Hand hielt er ebenjenen Spazierstock, der zu seiner ersten Begegnung mit Éanna geführt hatte. Und genau wie damals in Ballinasloe lag auch jetzt dieses seltsame Lächeln auf seinem markanten, braun gebrannten Gesicht, das so typisch für ihn war und das sie noch immer nicht recht zu deuten vermochte. War dieser Ausdruck, den sie auch in seinen dunkelblauen Augen wiederfand, doch eine eigenartige Mischung aus Spott, Selbstironie und einer Spur Wehmut.
»Wie schön, dass es mir vergönnt ist, dich noch ein letztes Mal zu sehen, Éanna«, sagte er leise. »Ich hätte es sehr bereut, dich zu verpassen, bevor du von Bord gehst.«
»Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es zu dieser Begegnung nicht ganz zufällig gekommen ist, Mister O’Brien«, erwiderte sie, bemüht, ihre Verlegenheit durch einen spöttischen Tonfall zu überspielen.
Patrick seufzte und machte ein gequältes Gesicht. »Muss es denn wirklich wieder Mister O’Brien sein, Éanna? Es gab eine Zeit, da hast du mich beim Vornamen genannt und mir dein ganzes Leben anvertraut. Und das waren die schönsten Stunden, an die ich mich erinnern kann.«
Éanna errötete bei seinen Worten. Noch vor wenigen Stunden hatte sie mit Brendan an der Reling gestanden und hatte jeden Gedanken an Patrick zur Seite geschoben. Und das war gut so gewesen.
Wasser und Öl ließen sich nun einmal nicht miteinander verbinden – ebenso wenig wie ein einfaches Mädchen vom Land, Tochter eines armen Kleinpächters aus Galway, eine Beziehung mit einem studierten Mann von seinem Stand eingehen konnte. Allein der Gedanke daran war schon ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Und sie hätte sich schon einmal um ein Haar dabei verbrannt. Das durfte nicht wieder geschehen! Ihr Wort und ihr Herz gehörten Brendan.
»Es muss und es wird dabei bleiben, Mister O’Brien«, antwortete sie deshalb mit fester Stimme, bemüht, den Abschied von ihm so rasch wie möglich hinter sich zu bringen. »Es ist besser so, sowohl für Euch als auch für mich.« Sie holte tief Luft. »Ich wünsche Euch von ganzem Herzen alles nur denkbar Gute auf Eurem Weg in Amerika und hoffe so sehr, dass Ihr hier einen Verleger für Euer erstes Buch findet. Und was auch passiert«, sie schluckte, weil sie merkte, wie ihre Stimme zu zittern begann, »– ich werde Euch nie vergessen, was Ihr für mich, Emily und auch für Brendan getan habt.« Sie hob ihren Kopf und lächelte ihn an, ein letztes Mal.
Doch so schnell ließ Patrick O’Brien sie nicht gehen. Mit sanftem Druck fasste er Éanna an der Schulter und hielt sie zurück. »Warte bitte, Éanna! Es gibt da etwas, das ich von Captain Richardson und seinen Offizieren erfahren habe und dir unbedingt sagen möchte!«, stieß er hastig hervor.
Sie zögerte. »Und was soll das sein?«
»Nun, es geht um die Bücher, die ich dir geschenkt habe – wie ich sehe, hast du sie retten können«, sagte er und deutete auf das verschnürte Paket unter ihrem Arm.
»Ja, zum Glück hat Emily noch im letzten Moment daran gedacht, als die Metoka sank«, erwiderte Éanna. Die Erinnerung daran, wie damals an Bord Panik ausgebrochen und die Menschen in Todesangst zu den provisorischen Flößen und Rettungsbooten gelaufen waren, um wenigstens das eigene Leben zu retten, reichte aus, um ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen.
»Für die sechs Bände solltest du von einem seriösen Buchhändler mindestens zehn Dollar bekommen, eher sogar zwölf.«
Éanna hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, was zehn oder zwölf amerikanischen Dollar in englischen Pfund, Shilling und Pence entsprach, aber
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