Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
den folgenden Sonntagnachmittagen in seiner Unterkunft in der Dorset Street aufsuchen und dort viel Zeit mit ihm verbringen würde.
Was würde Brendan bloß sagen, wenn er davon erfuhr?
Viertes Kapitel
In Gedanken versunken, machte sich Éanna auf den Rückweg zur Pension. Wie konnte sie Brendan ihre Abmachung mit Patrick O’Brien schonend beibringen? Nach und nach erwachte die Stadt zum Leben und Éanna spürte die Müdigkeit schwer in ihren Gliedern sitzen. Sie schenkte dem Trödelmarkt, der schon zu dieser frühen Stunde den breit angelegten Platz um die Kathedrale von allen Seiten dicht umschloss, kaum Beachtung. Es gab sie mittlerweile an jeder Straßenecke in den Armenvierteln, diese improvisierten Märkte mit ihren erbärmlichen Bretterbuden, Verkaufskarren oder einfach auf dem Boden aufgetürmten Kleiderbergen.
Da häuften sich abgetragene Wollkleider und grobe Kattunkittel, Hemden und Hosen, zusammengenäht aus unterschiedlich farbigen Lumpenstücken, verschossene Schals sowie löchrige Schuhe, Hüte und Hauben, von Motten zerfressene Fracks und Seidenkleider, die aus dem Abfall vornehmer Häuser ihren Weg zu den Trödlern genommen hatten, und allerlei Lumpen, die hier irgendwann doch noch ihre Käufer fanden. Denn diese schäbigen Trödelmärkte waren die Kleiderkammern der Armen.
Éanna folgte zügigen Schrittes der Francis Street in Richtung Liffey River. Diese breite Straße führte in die etwas wohlhabenderen Wohn- und Geschäftsviertel am rechten Flussufer. Aber man stieß auch hier auf Schritt und Tritt auf ausgemergelte Menschen, die von der Hungersnot entwurzelt waren und sich nach Dublin geflüchtet hatten. Lumpen schlotterten um die abgemagerten Körper, spitze Knochen traten unter der Haut hervor und die stumpf blickenden Augen lagen in tiefen, knöchernen Höhlen. Überall kauerten Bettler jeden Alters vor den Hauswänden, in den Tordurchgängen und an den Straßenecken. Ging ein Fremder vorbei, streckten sie ihm nur stumm ihre Hand oder ihre Bettelschale entgegen. Viele hatten aber selbst das Betteln aufgegeben und lagen nur reglos da.
Éanna litt mit ihnen. Fast fühlte sie sich schuldig, dass sie warme Kleidung am Leib trug und sie in der Pension ein zwar einfaches, aber sättigendes Frühstück genossen hatte. Sie wusste nur zu gut, wie sich quälender Hunger und Kälte anfühlten. Auch was es bedeutete, bei jedem Wind und Wetter auf der Straße zu leben. Und obwohl die Hungersnot schon ins dritte Jahr ging und sie diesen entsetzlichen Bildern Tag für Tag begegnete, erschütterte sie das Elend immer wieder von Neuem.
Als sie die Straßenkreuzung erreichte, an der es rechts in die High Street und links in die Thomas Street ging, sah sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Mietkutsche stehen. Ihr Besitzer hatte dem Pferd gerade den Futtersack vorgebunden. Und alle Bettler und vorbeikommenden Lumpengestalten, die sich gerade in der Nähe aufhielten, blickten voller Neid zu dem Pferd hinüber, das sich über sein Futter hermachte.
Rasch wandte Éanna sich ab und beeilte sich, zur Pension zu kommen. Ihre Gedanken kehrten zu Brendan zurück und zu der Frage, ob sie ihm am Abend von ihrer Abmachung mit Patrick O’Brien erzählen sollte.
Doch je länger sie darüber nachgrübelte, desto klüger erschien es ihr, es so lange wie möglich vor ihm geheim zu halten. Brendan hegte auch so schon genug Misstrauen gegen Mister O’Brien und die Privilegien seines Standes. Zusammen mit seiner Hitzköpfigkeit und Eifersucht konnte das eine gefährliche Mischung sein und alles zerstören, was ihnen beiden kostbar war.
Vielleicht gelang es ihr ja, ihr Versprechen gegenüber Mister O’Brien zu halten, ohne dass Brendan jemals etwas davon erfahren musste. Und womöglich wurde O’Brien ihrer Treffen ja schon nach zwei oder drei Sonntagnachmittagen überdrüssig. Das war nicht nur möglich, sondern vielmehr höchstwahrscheinlich. Denn junge Männer seines Standes, denen es an einer Vielzahl vergnüglicher Ablenkungen wahrlich nicht mangeln konnte, verloren gewiss schnell das Interesse an einem einfachen und mittellosen Bauernmädchen wie ihr.
Ja, so würde es sein! Warum also unnötig eine Auseinandersetzung mit Brendan heraufbeschwören, wenn es sich vermeiden ließ? Ihr würde schon eine plausible Erklärung einfallen, warum sie an diesen zwei, drei Nachmittagen nicht mit Brendan zusammen sein konnte. Wie es aussah, würden sie tagsüber sowieso keine Zeit füreinander haben. Zumal wenn
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