Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
die ihr in den vergangenen zwei Wochen Zuhause und Zuflucht gewesen war. Es war Zeit, wieder auf eigenen Füßen zu stehen und den Luxus eines eigenen Bettes und des regelmäßigen reichhaltigen Frühstücks hinter sich zu lassen.
Als sie die Treppe hinunterkam, wartete Emily schon auf sie. Gemeinsam wünschten sie der Pensionswirtin alles Gute und bedankten sich bei ihr für ihre Gastfreundschaft. Und die Herzlichkeit, mit der dies geschah, schien die Wirtin endlich doch zu rühren.
»Schon recht«, brummelte sie, »euch beiden alles Gute auf eurem Weg. Möge der Herr euch segnen.« Und damit öffnete sie die Haustür für ihre beiden ehemaligen Gäste, die in den sonnigen Sonntagnachmittag hinaustraten und sich voller Hoffnung Richtung Liberties und Ash Street wandten.
Fünftes Kapitel
Das dunkle Treppenhaus des heruntergekommenen Mietshauses stimmte Éanna schon gleich darauf ein, was sie im sechsten Stock erwarten würde. Denn es stank nach einer Mischung aus Urin, nassen Kleidern und Essensgerüchen. Zudem waren die Bretter zahlreicher Treppenstufen morsch und das wackelige Geländer war genauso wenig vertrauenerweckend. Sie wollte besser nicht daran denken, was es bedeutete, wenn man nachts den Abort auf dem Hinterhof aufsuchen musste. Sollte Alice ihnen keinen eigenen Nachttopf zur Verfügung stellen können, würde das wohl eines der ersten Dinge sein, die sie sich kaufen mussten.
Alice begrüßte sie mit fast überschwänglicher Freude, als hätte sie befürchtet, sie könnten es sich noch im letzten Moment anders überlegt haben und nicht erscheinen. Sie war eine abgehärmte Frau Mitte dreißig, sah jedoch gute zehn, fünfzehn Jahre älter aus. Von der Not gezeichnet waren auch Pamela, mit elf Jahren das älteste der drei Geschwister, sowie die neunjährige Peggy. Stumm und mit bleichen Gesichtern, denen schon längst das tägliche Elend jeglichen Rest von kindlicher Unbekümmertheit und Freude ausgetrieben hatte, beäugten die Mädchen die neuen Untermieterinnen. Das wenige Wochen alte Baby lag, in dreckige Tücher gewickelt, in einer Ecke und schrie.
Das Hinterzimmer, in dem bisher Alice und ihr Mann geschlafen hatten, war gerade mal so groß wie die kleinste Kammer in der Pension. Viel mehr als das verrostete Eisengestell für ein Doppelbett, das Éanna und Emily dort vorfanden, passte nicht hinein. Rechts und links war gerade noch genug Platz, dass man sich zwischen Wand und Bett hindurchzwängen konnte. Ein Brett, das an der Wand angebracht war und in das ein halbes Dutzend Nägel getrieben war, musste als Garderobe herhalten. Und die schmale Luke, die ihnen als Fenster diente, schloss nicht mehr richtig. Zudem war ein Stück Fensterglas herausgebrochen und jemand hatte als Notbehelf ein Stück Holz über das Loch genagelt.
»Das Bettgestell und die Matratze habe ich euch gelassen!«, sagte Alice Stapleton, als hätte sie ihnen damit einen großen Gefallen getan. Dabei passte das Gestell schlichtweg nicht in die Küche, die für sie und die drei Kinder nun auch Wohnraum und Schlafstätte war. Sie würden nachts den schäbigen Tisch und die Stühle vor das Fenster rücken müssen, um auf dem Dielenboden ihre Decken für ihr Nachtlager ausbreiten zu können. »Für Laken, Decken und Kissen müsst ihr selber sorgen. Aber ich gehe gern mit euch zu unserem Pfandleiher Mister Pearse. Da kriegt ihr die Sachen am billigsten, ihr habt mein Wort drauf.«
Emily erklärte sich umgehend bereit, die Sachen am Abend zu besorgen. »Ich weiß ja, dass du schon etwas Besseres vorhast«, neckte sie Éanna. Anschließend setzten sie sich mit Alice Stapleton an den Küchentisch und beredeten, was sie gemeinsam kochen und wie viel sie fürs Essen ausgeben würden.
Schließlich aber waren sie alle zufrieden mit dem, was sie ausgehandelt hatten. Und Éanna überschlug schnell im Kopf, dass sie nach Abzug ihres Anteils Miete und Essen wohl noch rund einen halben Shilling pro Woche für die Überseepassage weglegen konnte. Immer vorausgesetzt, dass sie am nächsten Morgen als Spinnerin in der Fabrik anfangen konnte.
Die frühe Nachmittagssonne warf ein glitzerndes, flirrendes Licht auf die dunklen Fluten des Liffey, als Éanna sich auf den Weg zu Patrick O’Brien machte. Sie ging über die langen Kais am rechten Ufer und folgte dem Strom flussabwärts. Die Dorset Street, wo Patrick O’Brien sie erwartete, lag auf dem anderen, dem Nordufer. Hinter dem Aston-Kai bog sie nach links auf die Queens Bridge ab, die sich in
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