Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
Arbeit und können wieder selber für uns sorgen. So soll es auch bleiben.«
Er ahnte, was sie ihm damit zu verstehen geben wollte, und nickte. »Nichts ist schlimmer und zerfrisst die Seele mehr, als von Almosen leben zu müssen, wie üppig sie auch ausfallen und wie gut sie auch gemeint sein mögen. Und ich weiß, wovon ich rede!«, erwiderte er mit einem bitteren Unterton in der Stimme. »Also bewahre dir deinen Stolz, Éanna! Wer sich seinen Stolz abkaufen lässt, gibt damit letztlich auch seine Ehre und Selbstachtung auf! Ich hoffe, dass ich die Kraft und den Willen finde, mich vor diesem unwürdigen Schicksal zu bewahren. Dem Himmel sei Dank, dass mich eine glückliche Fügung mit dir zusammengebracht hat!«
Verständnislos sah sie ihn an. Denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie damit zu tun haben könnte, dass er seine Selbstachtung nicht verlor.
Patrick sah ihr wohl an, was ihr durch den Kopf ging. »Ja, du hast schon richtig gehört! Du hast mir für manches in meinem Leben die Augen geöffnet, und zwar nicht allein, was meine Unwissenheit über die Hintergründe der Hungersnot angeht. Und wenn ich höre, was du in deinem Leben schon durchgemacht hast und wie tapfer du bist, fühle ich mich beschämt.«
Die Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte, beunruhigte und ängstigte Éanna. Sie hatte das Gefühl, als würde sie sich auf unsicherem Eis bewegen, das jeden Moment unter ihr aufbrechen konnte. Und nach allem, was an diesem Nachmittag schon geschehen war, drängte es sie, wieder sicheren Boden unter ihren Füßen zu spüren.
»Dafür gibt es sicherlich nicht den geringsten Anlass. Ihr werdet schon selbst sehr gut wissen, was Ihr tun und was Ihr besser lassen müsst«, sagte sie deshalb, um schnell betont sachlich fortzufahren: »Und wenn Ihr nichts dagegen habt, würde ich Euch jetzt gern weiter von dem berichten, was nach dem Tod meines Vaters und meiner anderen Geschwister in unserem Dorf vorgefallen ist. Sonst kommen wir heute nicht mehr zu der Massenräumung, die unser Grundherr letztes Jahr angeordnet und zu unserer Vertreibung geführt hat.« Und in Gedanken fügte sie hinzu: Und sonst werden wir nie mit meiner Geschichte fertig! Was in ihrem Hinterkopf sofort die Frage auslöste, ob sie das denn wirklich wünschte. Eine Frage, die sie schnell wieder aus ihren Gedanken verdrängte.
Er machte eine schuldbewusste Miene. »Natürlich! Entschuldige, dass ich immer wieder abschweife und dich mit meinen persönlichen Problemen belästige, die dir lächerlich erscheinen müssen. Also dann, zurück zum eigentlichen Thema!« Entschlossen griff er wieder zu Stift und Notizbuch.
An diesem Sonntag brach Éanna ihren Bericht um Punkt vier Uhr ab, was Patrick sehr bedauerte. Sie ließ sich jedoch nicht dazu überreden, länger zu bleiben. Sie gab vor, sich mit ihrer Freundin Emily verabredet zu haben, weil sie noch einiges gemeinsam zu besorgen hätten. In Wirklichkeit hatte sie allerdings jede Menge Zeit, weil Brendan sie erst nach halb fünf am Hafen vor dem Waschhaus erwartete.
Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie die Zeit bis dahin bitter nötig haben würde, um bis zu ihrem Wiedersehen mit Brendan einen kühlen Kopf zu bekommen und innere Distanz zu dem zu gewinnen, was an diesem Nachmittag zwischen ihr und Patrick geschehen war.
Vierzehntes Kapitel
Um ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden, aber auch um sich nicht die ganze Zeit der Kälte auszusetzen, suchte Éanna eine nahe gelegene Kirche auf.
Dort opferte sie einen halben Penny, um für die Verstorbenen ihrer Familie eine Kerze anzuzünden, und suchte innere Ruhe im Gebet. Das machte es ihr leichter, der Versuchung zu widerstehen, das wunderschöne Taschentuch hervorzuholen, um den feinen Stoff durch ihre Finger gleiten zu lassen und die edle Spitze der Säume zu bewundern.
Um kurz vor halb fünf brach sie zu den Docks und Kaianlagen des Hafens auf, der auch am Sonntag von geschäftigem Leben und Treiben erfüllt war. Denn nicht Sonn- und Werktage bestimmten den Verkehr der meisten Schiffe, sondern der Wechsel der Gezeiten.
Die letzten Lichtstrahlen der untergehenden Sonne fielen auf die Spitzen des dichten dunklen Stangenwerks der am Ufer und in den Docks vertäuten Schiffe. Es roch nach frisch angelandetem Fisch, nach feuchtem Segeltuch und Farbe, nach würzigem Tabak und nach dem Rauch der Tranleuchten, Paraffinlampen und Pechfackeln, die überall im Hafenbereich angezündet wurden, damit die Arbeit auch nach
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