Eanna - Stürmische See - Éanna ; [2]
zurief, legte die Metoka vom Kai ab und glitt hinaus auf den Fluss. Noch hatte die Bark kaum Segeltuch gesetzt. Die dunkle Strömung des Liffey übernahm einen Gutteil der Arbeit, den Dreimaster aus dem Hafen hinunter in die Dublin Bay zu tragen.
Éanna versuchte, Patrick auf dem Achterschiff ausfindig zu machen. Dort hatte sich die bedeutend kleinere Menschengruppe der Kabinenpassagiere erster und zweiter Klasse eingefunden. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn nicht entdecken. Es standen zu viele Menschen zwischen ihr und dem Seil hinter dem Großmast, das die Erste- und Zweite-Klasse-Passagiere von den Reisenden des Zwischendecks trennte, um einen ungehinderten Blick zu haben.
Éanna sah hinaus auf das Land, das an ihnen vorbeizog, das Land ihrer Jugend und ihrer Vorfahren. Und mit einem Mal wurde all das, was in den letzten Tagen und Wochen geschehen war, unwichtig. Jeder Kummer verblasste vor den Erinnerungen an ihre Familie und ihre Heimat, während der Fluss sich immer mehr weitete, in die Dublin Bay ergoss und schließlich in der Irischen See verlor. Éanna gedachte derer, die sie hier zurückließ, ihres Vaters und der Mutter, die in einem Armengrab an der Straße der Sterne verscharrt lag. »Ich habe es geschafft, Mutter«, flüsterte sie leise. »Ich habe es geschafft!«
Auch die anderen Auswanderer hatten Tränen in den Augen.
»Niemals werden wir wieder ein Land von so schönem Grün sehen wie unser geliebtes Irland«, sagte eine Frau mittleren Alters, die neben ihrem Mann und zwei halbwüchsigen Jungen stand. Ihre Kinder blickten mit großen Augen über die Reling, sichtlich im Zwiespalt, ob sie sich auf dieses ferne Land Amerika freuen sollten oder ob doch die Sehnsucht nach ihrer Heimat überwog.
Der Lotse war indessen von Bord gegangen und die Mannschaft enterte in der Takelage auf, um die Segel an den Rahen loszuwerfen. Wie ein kraftstrotzendes Reitpferd, dessen Zügel man locker gelassen hatte und das nun bereitwillig in den Galopp fiel, hob sich die Bark unter dem Druck der geblähten Segel aus der See und schnitt mit rauschender Bugwelle durch die eisigen Wogen.
»Der Herr hat es nicht anders gewollt, Liebes«, antwortete der Vater mit dem Fatalismus eines Mannes, der es schon längst aufgegeben hatte, mit dem Schicksal zu hadern. »Aber Irland wird bleiben, wie es ist, auch wenn wir schon längst unter der Erde liegen.«
»Ich hätte niemals das Land meiner Väter und Vorväter verlassen sollen«, klagte ein älterer Auswanderer. »Gott allein mag wissen, wo nun mein Grab sein wird! Vielleicht irgendwo dort draußen auf hoher See, an einem namenlosen Ort!«
Éanna fröstelte im kühlen Abendwind. Rasch fielen die felsigen Ufer der Dublin Bay mit ihren zerklüfteten Klippen hinter ihnen zurück.
Das Abendlicht gewährte ihnen noch einen letzten Blick auf das schroffe, steinige Howth Head und das einsam vor der Küste liegende Eiland Ireland’s Eye. Vom Vordeck drang eine melancholische Melodie zu ihnen herüber, die jemand auf seiner Fiedel spielte. Es war die traurige Ballade Eileen A Noon*, mit der die Iren den Tod eines ihrer Helden beklagten. Sofort nahmen einige die Melodie auf und sangen leise:
»Die Nacht ist rau und kalt, die Winde jagen, Robert A Noon … Viel kälter mag mein Herz im Busen schlagen, Robert A Noon … Nie wird mir die heitre Sonne wieder scheinen, nie kann mein Herz mehr erwärmen meinen … Robert A Noon …
Oh, es ist kalt, erstorben – gleich dem deinen, Robert A Noon … Ich möchte nie von diesem Ort mich trennen, Robert A Noon … Ach, welchen andern soll ich Heimat nennen? Robert A Noon …«
Éanna merkte gar nicht, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Dann versank die Küste Irlands im Dunkel der Nacht und es gab um sie herum nur noch die lange, tiefe Einsamkeit des unermesslichen Meeres.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Nicht einer der Iren im Zwischendeck hatte vor dieser Reise jemals den Fuß auf ein Schiff gesetzt. Als Bauern und Handwerker waren sie festen Boden unter ihren Füßen gewohnt. Und nun sahen sie sich dem unablässigen Auf und Ab der Metoka hilflos ausgesetzt.
Es half weder, das Schaukeln einfach zu ignorieren, noch, sich ihm anpassen zu wollen. Denn die Kräfte von See und Wind, die auf das Schiff einwirkten, folgten keinem gleichbleibenden Rhythmus. Und die unausbleibliche Folge war, dass der Körper, aus seinem gewohnten Gleichgewicht gebracht, darauf mit zunehmendem Unwohlsein reagierte und der Magen zu
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