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Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Burkhardt
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Himmel verwob. Sie spürte den harten, welligen Sandboden unter ihren nackten Füßen, das warme Wasser, wenn sie durch Pfützen und Priele lief, hin und wieder die scharfe Kante einer zerbrochenen Muschel. Sie verlor sich in dem Gefühl von Endlosigkeit und verspürte den Drang, immer weiter zu laufen, dem Horizont entgegen.
    In einem Moment weitete ihr Herz sich angesichts dieser Schönheit, im nächsten zog es sich schmerzhaft zusammen. Auf unsere Wünsche, hörte sie Arthur sagen, während er einen Stein mit Loch vor sein Gesicht hielt. Mia fühlte sich klein und verloren und fürchtete sich vor dem Augenblick, an dem sie zurück an Land musste.
    Sie umrundete einen großen Priel, und als sie wieder trockenen Sand unter ihren Füßen spürte, sah sie in der Ferne eine vertraute Gestalt auf sie zukommen. Es tröstete sie ungemein, Henny zu sehen, die ihr langes, blondes Haar im Wind wehen ließ und sich immer wieder bückte, um eine Muschel aufzuheben.
    Sammeln nicht alle Frauen Muscheln? Ja, gewiss, mein Lieber, und ich denke dabei jedes Mal an dich.
    Sie war froh, dass Henny keine Fragen stellte, sondern Mia nur still in die Arme nahm, als sie die Wehmut in ihren Augen sah.
    Schweigend gingen sie den Strand entlang.
    »War es so schlimm?«, fragte Henny nach einer Weile.
    »Nein, gar nicht. Eigentlich war es sogar richtig spannend. Du wirst es nicht glauben, Henny, aber Arthurs Vater ist Boy Kessler. Der Boy Kessler.« Endlich sprudelte es aus ihr heraus. Das wundervolle alte Haus voller Kunst und Bücher. Die zahlreichen Zeugnisse eines lebendigen, fröhlichen Familienlebens. Und Marlit Kessler, die zwischen all dem thronte wie eine Königin. Alles war ganz anders, als Mia geglaubt hatte. Aber gerade dieses Andere gefiel ihr. Und das wiederum machte ihr entsetzliche Angst.
    »Kein Wunder, dass Arthur immer so ehrgeizig war«, sagte Henny. »Bei dem Vater wäre er sonst vermutlich an Minderwertigkeitskomplexen zugrunde gegangen.«
    So hatte Mia das noch gar nicht gesehen. Aber Henny hatte zweifellos recht. Ein so übermächtiger Vater brachte seine Söhne ganz ungewollt in eine schwierige Lage. Entweder wurden sie mindestens genauso erfolgreich wie er – oder sie kamen sich ein Leben lang wie Versager vor. Mit Durchschnittlichkeit kam man in der Familie Kessler vermutlich nicht weit.
    »Was genau wollte Arthurs Mutter denn eigentlich von dir?«, fragte Henny.
    Mia hob hilflos die Arme. »Dass ich ihren Sohn rette, schätze ich.« Als sie Hennys entgeisterten Blick sah, nickte sie bedrückt und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich kann das nicht, Henny, es ist völlig unmöglich«, flüsterte sie.
     
    Am nächsten Tag organisierte der Reiterhof wie jeden Samstag einen langen Ausritt zur Ostspitze der Insel. Es war sehr windig, aber überwiegend sonnig. Der Wind machte die Pferde unruhig, doch weil die Gruppe aus vielen guten Reitern bestand, ließen sie die Pferde einfach laufen und schlugen von Anfang an ein schnelles Tempo an. Am unberührten östlichsten Zipfel von Spiekeroog machten sie eine lange Pause. Mia holte aus ihren Satteltaschen eine Flasche Rotwein hervor. In Plastikbechern stieß sie mit Henny an.
    »Auf Carol«, sagte sie und schaute versonnen aufs Meer hinaus.
    Heike, die Reitlehrerin gesellte sich zu ihnen. Sie kannte nicht nur Carol, sondern die ganze Familie Kessler. Andere Feriengäste fragten nach, und dann standen sie an ihre Pferde gelehnt beieinander und tauschten Erinnerungen aus. Die Rotweinflasche kreiste in der Runde, jemand öffnete eine Packung Salzstangen, ein anderer verteilte Gummibärchen. Mia sog die salzige Seeluft ein, die sich mit dem warmen Geruch der Pferde vermischte.
    »Auf das Leben!«, sagte Henny und reckte die Weinflasche in die Luft.
    »Auf das Leben und die Liebe!«, rief Heike, und Mia spürte einen Kloß im Hals.

26
         Der einundvierzigste Geburtstag war nicht so schlimm wie der vierzigste. Mia hatte sich in das Unvermeidliche gefügt. Sie war eine geschiedene Frau über vierzig, schwer vermittelbar, ohne geregelte Arbeit, mit magerem Einkommen und ungewisser Zukunft.
    Resigniert begutachtete sie im erbarmungslosen Spiegel ihres Friseurs die schlaffen Falten unter ihren Augen, die ersten Anzeichen von hässlichen Tränensäcken, die Furchen um ihre Mundwinkel, während sie von Mädchen umschwirrt wurde, die so jung und frisch aussahen wie Mia in ihrem ganzen Leben nicht. Sie war überzeugt, die hässlichste und älteste Frau im Salon zu sein und

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