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Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Burkhardt
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hatte ihr zwar lange eine gewisse Sicherheit geboten, aber die meisten ihrer Aufgaben hatte sie erfüllt, alles, was in Zukunft noch kommen würde, waren Kleinigkeiten, von denen sie nicht leben konnte.
    Sie zog ihre Bluse aus – jedes Stückchen Stoff auf ihrer Haut schien zu viel zu sein -, goss sich ein zweites Glas Wasser ein und nahm erneut die Trauerkarte in die Hand.
    Plötzlich und für uns alle unfassbar …
    Woran Hartmut Lohmann wohl gestorben war, mit gerade mal neunundsechzig Jahren? Die arme Erika.
    Und Frank – lieber Himmel, Frank!
    Er hatte keine Geschwister und musste sich nun ganz allein um seine Mutter und die Beerdigung kümmern. Den ganzen restlichen Tag trug Mia ihre Bestürzung mit sich herum, dieses Gefühl von unfassbar, das sich unweigerlich einstellte, wenn man eine überraschende Todesnachricht erhielt, egal wie gut man den Verstorbenen gekannt hatte. Am Abend überwand sie endlich ihre Scheu und rief Frank auf seinem Handy an.
    »Mia!« Er klang weit weg und verrauscht.
    »Frank, es tut mir so leid.« Sie kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich habe heute eure Traueranzeige bekommen. Was ist denn passiert?«
    »Ach, Mia …«, die Verbindung schien noch schlechter zu werden. »Es war ganz plötzlich. Mein Vater ist einfach auf dem Acker umgekippt. Vermutlich hat sein Herz das schwüle Wetter nicht ausgehalten.«
    »Hatte er denn Herzprobleme?«
    »Keine, von denen wir wussten. Aber er wäre vermutlich auch nicht zum Arzt gegangen, falls er Beschwerden gehabt hätte.« Franks Stimme wurde immer leiser. »Es ist so schön, dich zu hören! Ach, Mia …«
    Mia presste das Telefon fester ans Ohr, in der Hoffnung, Frank dadurch besser zu verstehen. Er klang bedrückt und sehr verloren.
    »Kann ich etwas für euch tun?«, fragte sie spontan.
    Frank zögerte. »Vielleicht könntest du zur Beerdigung kommen?« Es war eine Frage ohne Fragezeichen, eher eine Bitte, ein Wunsch.
    Mia dachte an Franks grauenvolle Verwandtschaft und stellte sich vor, wie all seine Tanten und Onkels aus ihr, der Exfrau, Hackfleisch machten.
    »Ich … ich weiß nicht«, sie konnte ihren Widerwillen nicht verbergen.
    Frank hörte darüber hinweg. »Du könntest mit Rocco mitfahren.«
    »Rocco kommt auch?«
    Die Exfrau und der schwule Liebhaber – du liebe Zeit, das würde ja das reinste westfälische Schlachtfest geben.
    »Ich rufe Rocco mal an«, sagte Mia, nur, um Zeit zu gewinnen, und weil sie Franks Verlorenheit nicht ertrug. Dankbar verabschiedete er sich.
    Mia war angespannt, ihre Haut fühlte sich heiß und klebrig an. Sie ging kalt duschen, bevor sie Roccos Nummer wählte. Ausnahmsweise klang er mal weder spöttisch noch herablassend.
    »Komm bitte mit«, drängte er. »Ich glaube, Frank kann gar nicht genug Leute um sich haben, die ihn aufmuntern. Er ist ehrlich gesagt total fertig.«
    »In Ordnung«, sagte Mia, aber als sie auflegte, hatte sie ein flaues Gefühl im Magen.
     
    Rocco fuhr immer noch seinen gelben Jetta, Baujahr 1982. Mia verstaute ihr schwarzes Sommerkleid in einer Tasche, die sie auf die Rückbank neben einen Kleidersack stellte, in dem sich ein schwarzer Anzug befand.
    »Gut, dass du auch was zum Umziehen mithast«, sagte Rocco mit einem Blick auf Mias geblümten Rock und das knallrote Top. »Hier drin gibt’s nämlich keine Klimaanlage.«
    Er trug über einer beigen Shorts ein enges, weißes T-Shirt mit einem bunten Aufdruck: »Today I wear my lovers t-shirt.«
    Mia ließ sich auf einem abgenutzten Plüschfell nieder und schob mit den Schuhspitzen eine leere Plastikflasche zur Seite, die auf dem Boden lag.
    »Darin wirst du vor Hitze sterben«, sagte sie mit einem Blick auf den schwarzen Anzug, und Rocco schnitt eine dramatische Grimasse.
    Das Thermometer zeigte bereits am frühen Morgen fast 25 Grad an. Bis zu 36 Grad sollten es laut Wetterbericht werden, im Auto war es vermutlich jetzt schon so heiß. Allerdings waren örtlich auch heftige Gewitter angekündigt worden.
    »Das wird keine Vergnügungsfahrt, das ist dir klar, oder?«, fragte Mia.
    »Natürlich. Keine Beerdigung ist vergnüglich.«
    »Ich meine das aber wegen der Verwandten.«
    »Ach, die werden wir schon überleben. Haben wir doch damals bei eurer Hochzeit auch.« Roccos Stimme hatte wie immer diesen leicht spöttischen Ton.
    »Ja, aber diesmal ist es anders. Ich bin nicht mehr Franks Frau. Stattdessen bist du …« Sie beendete den Satz nicht, sondern fragte: »Warst du mal bei Franks Eltern? In letzter Zeit, meine

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