Ebbe und Glut
beschloss, sich zukünftig einen Friseur zu suchen, der Dauerwellen und Rentnerrabatte im Angebot hatte.
Im Freibad entdeckte sie im gleißenden Sommerlicht auf ihrem nackten Bauch zahlreiche Hautveränderungen – winzige rote Pünktchen, Leberflecke, Verfärbungen, die ein sichtbares Zeichen für den Alterungsprozess ihres Körpers waren. Mia war immer stolz auf ihre makellose, reine Haut gewesen. Jetzt auf einmal veränderte sich alles. Was über viele Jahre hinweg gewachsen war und sich entfaltet hatte, verfiel nun nach und nach wieder.
Sie hatte den Zenit ihres Lebens überschritten.
Der Schock darüber saß tief.
Gleichzeitig spürte sie aber auch Veränderungen, die nicht abwärts, sondern aufwärts zeigten. Die Gelassenheit etwa, mit der sie neuerdings über ihre Zukunft nachdachte. Sie machte keine Pläne mehr – wozu auch? Es kam doch alles anders als erwartet. Aber es ging ihr nicht schlecht damit, im Gegenteil, sie verspürte ein völlig neues Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Wer alles verloren hatte, erkannte sie, konnte nur noch gewinnen.
Und ihr wurde klar, dass sie nicht mit vollkommen leeren Händen dastand. Sie war einmal verheiratet gewesen, hatte an das große Glück geglaubt, geliebt, gelebt, geträumt. Wie anders musste es Henny gehen, die nur auf eine Ansammlung seltsamer Affären und kurzer Beziehungen zurückblicken konnte?
Zu ihrer Verwunderung war Henny jedoch ausgesprochen zufrieden. Genau genommen wirkte sie optimistischer als mit dreißig und steckte Tiefschläge leichter weg. Sie war von ihrer Spiekeroogreise entspannt und energiegeladen zurückgekehrt, als hätte es die Pleite mit Dirk Richter nie gegeben.
»Ich hätte nie gedacht, dass Älterwerden so toll sein kann«, sagte Henny. »Früher dachte ich immer, mit vierzig sei alles vorbei. Aber das stimmt gar nicht. Ich meine, ich habe so viel Lust . Das war doch früher nicht so. Wisst ihr, was ich meine?«
Annika zuckte verlegen mit den Schultern, aber Mia erinnerte sich an die Momente voller Wonne, in denen Arthur sie verwöhnt hatte. Sie dachte damals, das läge nur an seinen Verführungskünsten, aber vielleicht lag es ja auch an ihr. Verspürte sie tatsächlich mehr Lust als früher, weil sie entspannter und unverkrampfter war? Weil sie sich leichter fallen lassen konnte und viel genauer wusste, was ihr gefiel und was nicht? Sie musste das unbedingt so schnell wie möglich überprüfen. Die Frage war nur, mit wem.
Der Sommer bestand aus wenigen sehr heißen, sehr schwülen Wochen. Mia hockte halbnackt vor ihrem Fernseher oder saß mit Henny und Annika im Freien vor Cafés und Kneipen, die auf Großbildfernsehern die Fußballweltmeisterschaft aus Südafrika übertrugen. Der stete Lärm und die Lebendigkeit, die wochenlang über der Stadt hingen wie die bleierne Hitze, standen im Gegensatz zu der Ruhe, die Mia innerlich verspürte. Und doch fehlte etwas. Ihre innere Stille entsprach nicht einer großen Entspannung, sondern eher einer Leere, die Mia nicht zu füllen vermochte, so sehr sie sich auch abmühte.
An einem brüllend heißen Tag, an dem jeder Schritt zu viel war, fand sie in ihrer Post eine Traueranzeige.
Franks Vater war gestorben.
Lange saß Mia mit der Karte in ihrer Hand reglos an ihrem Küchentisch. Ach je, Hartmut, dachte sie bestürzt, und ihr fielen schlagartig Dutzende kleiner Begebenheiten ein, die sie mit Hartmut Lohmann verband. Sie sah ihn still und verschlossen am Esstisch sitzen, energisch Kommandos an Familienmitglieder und Angestellte verteilen, auf seinem Traktor über den Hof fahren, Mias Mutter auf ihrer Hochzeit beim Tanzen sehr gekonnt über das Parkett wirbeln. Die Gespräche, die sie miteinander geführt hatten, waren meistens oberflächlich geblieben, Hartmut Lohmanns Welt war eine andere als die seines Sohnes und seiner Schwiegertochter. Aber Mia hatte sich in seinem Haus willkommen gefühlt, sie wurde bei jedem Besuch herzlich empfangen und ganz selbstverständlich in den Familienkreis aufgenommen.
Langsam stand sie auf, füllte kaltes Wasser in einen Krug und trank gierig ein erstes Glas davon. Sie war den ganzen Vormittag unterwegs gewesen und verschwitzt und erschöpft. Sie hatte eine kleine Medienagentur besucht, die jemanden für ein Werbelektorat suchte. Die Bezahlung war nicht gut, wieder einmal, aber Mia fand die Leute nett und sagte daher zu. Wie eine Ertrinkende griff sie nach allen Strohhalmen, die sich ihr boten. Ihre umfangreiche Arbeit für Elbzeug
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