Ebbe und Glut
Schriftsteller.«
»Boy? Boy Kessler?« Mia starrte sie entgeistert an. » Der Boy Kessler ist Ihr Mann?«
Sie hatte die meisten von Boy Kesslers Romanen gelesen, allesamt brillant geschriebene Bestseller. Ihre Mischung aus Thriller und Gesellschaftsroman, die brisanten Themen wie Gentechnologie, Umweltzerstörung oder Nationalsozialismus, die der Jurist auf kunstvolle und äußerst unterhaltsame Weise aufgriff, faszinierten Mia immer wieder neu. Jetzt erkannte sie auch den Mann auf einem der Fotos.
»Ich wusste das nicht«, stammelte sie. »Arthur hat kein Wort davon gesagt.«
Marlit seufzte. »Das überrascht mich nicht.« Sie schenkte Tee ein und bot Mia Schokoladenkekse an.
Mia beobachtete, wie sie mit ruhiger, sicherer Hand hantierte. Ein Bruder, der malte, einer, der Musik machte. Und einer, der alles konnte. Natürlich. Arthur war der Star der Familie, der Held. Vielleicht auch gerade darum, weil er nicht den familiären Erwartungen entsprochen hatte, sondern ganz eigene Wege ging. Helden, dachte Mia, waren oft einsam. Arthurs leblose Wohnung in der Hafencity kam ihr in den Sinn. Was für ein Kontrast zu diesem lebendigen, vollgestopften Künstlerhaus hier auf der kleinen Nordseeinsel.
Marlit Kessler musterte Mia scharf. »Sie mögen meinen Sohn sehr, nicht wahr?«
»Nun ja, ich …«
»Das ist ja kein Verbrechen. Arthur lebt alleine, er steht trotz allem finanziell sehr ordentlich da, und er ist ein hübscher Bengel, nicht wahr?«
Der hübsche Bengel , in dem Marlit ihren ganzen Mutterstolz ausdrückte, brachte Mia zum Schmunzeln.
»Ich kann gut verstehen, dass Sie ihn attraktiv finden«, fuhr Marlit fort. »Aber mit ihm eine wie auch immer geartete Beziehung einzugehen, dürfte schwierig sein. Ich sage das nicht, um Sie abzuschrecken, sondern nur, um Ihnen deutlich zu machen, worauf Sie sich einlassen. Arthur hat sich sehr verändert, müssen Sie wissen. Er war früher ein ganz anderer Mensch.«
Mia beugte sich neugierig vor. »Wie war er denn?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Sie sprang ihr aus jedem Winkel dieses Hauses entgegen.
»Neugierig und lebendig. Für Arthur war immer alles ein einziges, großes Spiel«, erzählte Marlit. »Er besaß ein unerschütterliches Vertrauen in sich und seine Talente – und dadurch klappte auch alles. Aber er bildete sich auf seine Leistungen nie etwas ein. Er war ein fürsorglicher, kameradschaftlicher Bruder. Den kleinen Bruder hat er beschützt, den großen angespornt.«
Ich war immer der Kümmerer. Vor noch gar nicht langer Zeit hatte Mia über Arthurs Behauptung gelacht.
»Beruflich hat ihn dieses enorme Selbstvertrauen weit nach vorne gebracht«, fuhr Marlit fort. »So, wie er beim Sport ständig der Beste sein wollte, so wollte er auch in seinem Job einfach nur gewinnen, mehr nicht. Carol hat ihn in seinem Ehrgeiz zusätzlich angestachelt. Gemeinsam wurden sie zu einem sehr erfolgreichen, aber auch rastlosen Paar. Andererseits war Carol wiederum ein großer Segen für Arthur. Sie war die erste Frau, die ihn dauerhaft zu binden vermochte. Vorher gaben sich die Frauen hier die Klinke in die Hand. Du lieber Gott, ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen!«
Mia war nicht scharf darauf, diese Geschichten zu erfahren. Sie konnte sich auch so lebhaft ausmalen, wie der junge Arthur auf das weibliche Geschlecht gewirkt hatte. Energisch biss sie in einen Schokoladenkeks, der jedoch mit einer scheußlich süßen Creme gefüllt war. Rasch spülte Mia mit etwas Tee nach. Marlit Kessler nahm ebenfalls einen Schluck Tee und verfolgte ihre Gedanken über Arthur und die Frauen zum Glück nicht weiter.
»Boy führte manchmal erbitterte Diskussionen mit Arthur über die Finanzmärkte. Er warf ihm vor, ein ausbeuterisches, ungesundes System zu stützen. Arthur gab ihm recht. Aber dann sagte er: Wenn ich den Job nicht mache, macht ihn ein anderer. Warum soll ich dann mein Talent nicht für mein eigenes Glück nutzen? Geld macht unabhängig. Wenn ich mit fünfundvierzig so viel verdient habe, dass es für den Rest meines Lebens reicht, dann habe ich mir damit eine Freiheit erkauft, die unbezahlbar ist.«
»Und dann musste er erkennen, dass Glück von ganz anderen Dingen als von Geld abhängt«, sagte Mia leise.
Marlit nickte ernst. »Genau so ist es. Mit seinem Geld konnte er sich weder seine Frau noch seine Gesundheit zurückkaufen. Es war plötzlich überhaupt nichts mehr wert.« Marlit schloss die Augen und sah auf einmal alt und erschöpft
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