Ebbe und Glut
nicht, was du meinst.«
»Sag ich doch: schlechtes Gedächtnis.« Roccos Worte schlugen ihr entgegen wie die ersten dicken Regentropfen, die auf die Windschutzscheibe fielen. »Aber ich helfe dir gerne auf die Sprünge. Was fällt dir denn zum Schlagermove vor zwei Jahren ein? Kiez, Reeperbahn, der schummrige Flur in einer kleinen Bar, vor den Toiletten. Ein großer Kerl, eng umschlungen und knutschend mit einer halbnackten Frau, die Mia Sommer erstaunlich ähnlich sieht. Klingelt's da?«
Urplötzlich zerbrach etwas in Mia.
Ein kleines Kästchen, in dem sie ein Geheimnis gehütet hatte, eingehüllt in Zorn und Enttäuschung, umschlossen von der trügerischen Gewissheit, im Recht zu sein. Sie hatte niemandem davon erzählt, nicht mal Henny und Annika. Je weniger sie sich damit befasste, desto unwirklicher wurde die Geschichte, bis sie gar nicht mehr zu existieren schien.
»Woher weißt du das?« Ihre Stimme war ein heiseres Flüstern, sie konnte kaum noch atmen und sehnte sich nach frischer Luft.
»Frank hat euch gesehen. Wir haben euch gesehen.«
Sie schüttelte entsetzt den Kopf.
Frank hat euch gesehen.
Schlagartig wurde ihr vieles klar.
Franks deutliche Entscheidung für Rocco, die Mia so demütigend vorgekommen war. Seine ständigen, verzweifelten Versuche, ihr nachträglich alles zu erklären, vermutlich verbunden mit dem Wunsch, seine überstürzte Entscheidung wieder zu korrigieren, ihr genauso zu verzeihen, wie sie hoffentlich auch ihm verzeihen würde.
Aber sie hatte sich in ihrem selbstgerechten Zorn verrannt und Frank nicht zuhören wollen. Sie hatte letztendlich ihre Ehe weggeworfen, nicht er.
Erschüttert presste Mia die Hände vor den Mund. »Das wusste ich nicht«, flüsterte sie und spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte.
»Du überhäufst Frank mit Vorwürfen und bist selbst nicht besser.« Roccos Gesicht war hart.
»Aber es war nicht so wie zwischen euch. Es war nur dieses eine Mal«, versuchte Mia sich zu rechtfertigen.
»So?« Rocco schien ihr nicht zu glauben. »Macht es das dadurch besser? Viel wert schien Frank dir ja nicht zu sein, wenn du ihn so schnell fallenlassen konntest.«
»Und was war ich Frank wert? Er hat mich monatelang betrogen.«
»Das war auch nicht in Ordnung, da hast du recht. Aber bei ihm hat sich das anders entwickelt, losgelöst von eurer Ehe. Es hatte mit dir viel weniger zu tun als du immer dachtest. Du hingegen hast ihn einfach fallenlassen.«
Mia legte eine Hand auf ihren schmerzenden Bauch. »So war das doch gar nicht. Ich war so unfassbar verletzt, als ich euch beide in unserem Badezimmer gesehen habe. So enttäuscht und … eifersüchtig. Ich … ich dachte, ich könnte das nicht ertragen.«
All die Empfindungen jener entsetzlichen Tage stellten sich wieder bei ihr ein, sie fühlte sich klein, ungeliebt und verloren.
Der Himmel wurde immer dunkler, der Regen stärker. Rocco nahm die Sonnenbrille ab. Mit finsterem Blick starrte er auf die Straße.
Plötzlich war alles wieder da. Frank und Rocco in ihrem Bad. Diese schreckliche Mischung aus Zorn und Verzweiflung, die Mia bei ihrem Anblick befiel. Ihr Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Und jener Samstag, den sie so hartnäckig aus ihrem Gedächtnis verbannt hatte. Sie sah sich in Annikas Wohnung sitzen, verkatert von ihrem Jägermeistergelage am Vortag. Sie trank Tee, rauchte, heulte und verfluchte Frank. Gleichzeitig hegte sie aber auch die verzweifelte Hoffnung, es werde sich alles wieder einrenken und Frank zu ihr zurückkehren. Bis vor wenigen Tagen hatte sie ein ganz normales Leben geführt, und nun war auf einmal alles ins Wanken geraten. Aber es würde nicht stürzen, hoffte sie, es würde alles ein wenig wackeln und sich dann wieder zurechtrücken.
Gegen Mittag klingelte ihr Handy mehrmals. Erst war es Sonja, eine Kollegin aus der Agentur. Ob sie nicht doch Lust habe, zum Schlagermove mitzukommen? Die Kollegen wären alle zusammen unterwegs, es sei ein Riesenspaß. Mia hatte sich ursprünglich mit ihnen verabredet, nach der Katastrophe mit Frank aber wieder abgesagt. Auch jetzt lehnte sie ab.
Der zweite Anruf stammte von Stefan Büttner. »Hey, komm doch mit!« Er versuchte ebenfalls, sie zu überreden.
»Ich schaffe das nicht«, schluchzte Mia. Stefan kannte sie gut genug, ihm gegenüber musste sie sich nicht verstellen.
»Würde dir aber nicht schaden, mitzugehen«, sagte Annika, nachdem Mia aufgelegt hatte. »Geh raus, komm auf andere Gedanken. Warum soll denn nur
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