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Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Burkhardt
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jetzt?«
    Die Kirche war zum Greifen nahe, sie hörten bereits die Glocken läuten.
    »Zu Fuß gehen, was sonst.« Rocco sah so aus, als wolle er sie umbringen.
    »Und wann ziehen wir uns um?«
    »In der Kirche, da wird’s ja wohl irgendwo ein Klo geben. Vorher macht es bei dem Wetter sowieso keinen Sinn. Oder hast du einen Schirm dabei?«
    Mia starrte Rocco entgeistert an. Natürlich hatte sie keinen Schirm mitgenommen. Sie waren bei so hochsommerlichem Wetter gestartet, dass sie nicht eine Sekunde lang an einen Regenschirm gedacht hatte. Und wer hörte schon auf Wetterberichte? Die stimmten doch sonst auch nie. Eins stand jedenfalls fest: Falls irgendjemand da oben fand, sie solle Buße tun, so war jetzt offensichtlich der Zeitpunkt dafür gekommen.
    Mia nahm ihre Tasche und Rocco seinen Kleidersack.
    »Auf drei«, sagte Rocco. »Eins, zwei, drei …«
    Sie sprangen hinaus in den strömenden Regen und rannten den lehmigen Feldweg entlang, in dessen Furchen tiefe Pfützen standen. Von oben schüttete es wie aus Eimern, von unten spritzte ihnen der Schlamm bis ins Gesicht. Sie hielten sich ihre Taschen über die Köpfe, doch die boten nur notdürftig Schutz.
    Als sie durchweicht und völlig verdreckt auf der Rückseite der Kirche ankamen, blieben sie kurz stehen, um Luft zu holen. Mia musterte Rocco atemlos. Aus seinen Haaren, die ihm unordentlich ins Gesicht hingen, tropfte in feinen Rinnsalen Wasser, seine Kleidung, die klatschnass an seinem Körper klebte, war über und über mit Schlamm bespritzt, und an seinen Leinenschuhen hingen dicke Lehmklumpen. Sie selbst befand sich in einem ähnlich aufgelösten Zustand, das sah sie an Roccos Gesichtsausdruck.
    Auf einmal fing er schallend an zu lachen. »Auf zur Schlachtbank?«
    »Auf zur Schlachtbank.« Mia stimmte in hysterischer Verzweiflung in sein Gelächter ein.
    Sie gingen um die Kirche herum. Vor dem Eingang standen unter großen Regenschirmen einige Trauergäste, alle in Schwarz, alle gepflegt und trocken, trotz des Wetters. Mia und Rocco traten in ihrer bunten, völlig verdreckten und durchnässten Freizeitkleidung hinzu.
    »Oh Gott, Mia!« Erika Lohmann erkannte sie als erste und stieß einen spitzen Schrei aus. Sie schlug die Hände vor den Mund und fing an zu weinen - fast so, als sei die eigentliche Tragödie des Tages nicht der Tod ihres Mannes, sondern der völlig unpassende Auftritt ihrer ehemaligen Schwiegertochter und dieses seltsamen Mannes, der neuerdings mit ihrem Sohn zusammenlebte. Frank, sehr elegant in schwarzem Anzug, löste sich aus der Gruppe.
    »Ach, du Scheiße, wo kommt ihr denn her?«, fragte er entgeistert.
    »Wir sind auf dem Acker stecken geblieben«, erklärte Rocco.
    »Auf dem Acker?« Frank sah ihn an, als zweifle er an seinem Verstand. Dann verzog er das Gesicht, als würde er auch gleich in Tränen ausbrechen. Stattdessen fing er laut an zu lachen. »Scheiße, Mann, seht ihr vielleicht schlimm aus.«
    Mia kicherte erleichtert, und Rocco grinste breit, als er die schockierten Gesichter der anderen Trauergäste sah. Der erste Skandal war ihnen sicher, der zweite ging auf Franks Konto. Er wagte es, auf der Beerdigung seines eigenen Vaters laut zu lachen. Wie geschmacklos! Erika weinte noch heftiger, und jemand schob sie und Frank hastig in die Kirche hinein.
    »Können wir uns hier irgendwo umziehen?«, fragte Mia, um Fassung bemüht, in die Runde.
    »Umziehen?«, fragte eine von Franks Tanten pikiert. Hieß sie Hilde? Mia erinnerte sich nicht mehr genau. »Jetzt sicher nicht mehr. Dafür ist keine Zeit.«
    Und schon wurden sie ebenfalls ins Innere der Kirche befördert, die große Tür schloss sich hinter ihnen, und sie ließen sich unter den entgeisterten Blicken der übrigen Trauergemeinde auf den letzten freien Plätzen in der vollbesetzten Dorfkirche nieder. Die Trauerfeier begann.
     
    Mia konnte der Zeremonie kaum folgen. Zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt, mit dem nassen Stoff ihres Rockes, der unter ihrem Hintern klebte, ihren Haaren, die durch die Nässe kraus geworden waren und ihr immer wieder ins Gesicht fielen, vor allem aber mit den wirren Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen. Der Tag entwickelte sich völlig anders als sie erwartet hatte. Erst dieses seltsame Gespräch mit Rocco, das ihre Unsicherheit und Angst Frank gegenüber noch verstärkte. Dann ihr unfassbar peinlicher Auftritt vor der Familie, viel zu spät, falsch gekleidet, dreckig und durchnässt. Was würde als nächstes kommen?
    Sie fing

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