Ebbe und Glut
wollte. Zuhause lag sie die ganze Nacht wach und fühlte sich grässlich.
Kaum hatten sie und Frank eine ernsthafte Krise, schon betrog sie ihn. Wie erbärmlich! Er hat dich doch auch betrogen, ertönte eine hartnäckige Stimme in ihr, und zwar noch viel häufiger. Schlimmer noch, er hat sich verliebt. Sie glaubte dieser Stimme und ließ sich von ihr beruhigen. Genau so war es. Frank war der Böse, und sie hatte nur aus Verzweiflung gehandelt. Was er getan hatte, zählte, ihr eigenes Handeln war unwichtig. Und so stopfte sie alle Erinnerungen an diesen Abend in ein kleines Kästchen, das sie tief in ihrem Inneren verschlossen hielt.
Nur Stefan Büttner erinnerte sie in den ersten Monaten immer wieder daran, was geschehen war. Er versuchte sich ihr erneut zu nähern, hoffte auf mehr. Sie ließ ihn abblitzen und zog sich zurück. Ihr gutes Verhältnis kühlte deutlich ab – bis zu jenem Tag, an dem Mia ihren Job verlor. Doch dann war auch das vorbei, und sie ließ alles hinter sich.
»Was für ein beschissenes Wetter.«
Rocco riss sie aus ihren Erinnerungen. Sie waren mitten in ein Unwetter geraten. Der Himmel war fast schwarz und wurde immer wieder von Blitzen erhellt, es regnete so stark, dass die Sicht nur wenige Meter betrug und das Wasser Zentimeter hoch auf dem Asphalt stand. Rocco, der mit dem Jetta ohnehin nicht schnell fahren konnte, hing hinter einem Laster fest. An Überholen war nicht zu denken. Im Schneckentempo zuckelten sie über die Autobahn.
»Wenn das so weiter geht, kriegen wir ein kleines Zeitproblem«, schimpfte Rocco und sah nervös auf die Uhr.
Mia starrte die dichte Regenwand vor den Fenstern an. »Lieber Himmel.« Sie war aufgewühlt und bewegt. »Warum erzählst du mir das alles gerade jetzt – nach so langer Zeit?«
Rocco grinste breit. »Weil du im Moment so schlecht weglaufen kannst.«
Natürlich, dachte Mia betreten, sie hatte niemandem eine Chance gegeben, weder Frank noch Rocco. Ganz egal, wie schuldig die zwei sich gemacht hatten, aber sie hätte ihnen wenigstens zuhören können.
»Und außerdem«, fuhr Rocco fort, und seine Stimme nahm einen freundlicheren, fast sanften Klang an, »glaube ich, dass es für Versöhnungen nie zu spät ist. Du hast schon recht, das wird richtig gruselig heute, aber ich finde, wir können Frank dort jetzt unmöglich alleine lassen. Das sind wir beide ihm schuldig, meinst du nicht?«
Ein ohrenbetäubender Donnerschlag enthob Mia einer Antwort. Erschrocken zuckte sie zusammen. »Bring uns hier bloß heil raus«, sagte sie.
Als sie in Bielefeld von der Autobahn abfuhren, war das Unwetter direkt über ihnen. Immer nervöser schaute Mia auf ihre Uhr. In einer halben Stunde begann bereits die Trauerfeier, und sie hatten noch einige Kilometer vor sich. Ihre Zeitplanung war eine absolute Katastrophe, sie verstand nicht mehr, warum sie nicht viel früher in Hamburg losgefahren waren.
Rocco fuhr langsam auf kurvigen Straßen durch die hügelige Landschaft des Teutoburger Waldes. Die Ortschaften wurden kleiner, zwischen den waldigen Hügeln erstreckten sich Wiesen und Felder. Endlich erkannte Mia das Dorf, in dem Frank aufgewachsen war. Sie ließ die Uhr nicht mehr aus dem Blick.
»Noch fünfzehn Minuten«, stöhnte sie, »und wir haben uns noch nicht mal umgezogen.« Nervös starrte sie aus dem Fenster. Das Gewitter zog zum Glück schnell wieder ab, doch es regnete unvermindert stark. Die Straße führte um ein Weizenfeld herum. Auf der anderen Seite lag die Kirche.
»Moment mal!«, rief Mia, als sie einen Weg entdeckte, der quer durch das Feld verlief. »Da kannst du durchfahren, das ist eine Abkürzung, die hab ich früher mit Frank auch schon benutzt.« Im Sommer waren sie hier oft mit den Fahrrädern entlang gefahren.
Rocco bremste scharf und bog in den unebenen Feldweg ein. Zu spät erkannte er, wie morastig der Boden war. Der Jetta kam nur mühsam vorwärts, einmal gab es ein Geräusch, als habe der Wagen aufgesetzt, dann steckten sie fest.
»Was ist jetzt los?«, schrie Mia aufgebracht.
»Eine Abkürzung, ja?«, schnaubte Rocco wütend. Er drehte das Lenkrad hin und her und versuchte, die blockierten Räder freizubekommen. Der Motor jaulte auf, der Jetta vibrierte, doch er rührte sich nicht vom Fleck.
»Ich konnte doch nicht ahnen, dass das hier so ein Schlamm ist. Früher hatten wir hier nie Probleme«, jammerte Mia.
»Mit dem Fahrrad vielleicht. Oder zu Fuß.« Roccos Zorn traf sie ungebremst.
»Was machen wir denn
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