Ebbe und Glut
einen Blick von Rocco auf. Er grinste verschmitzt. Offensichtlich sah er mehr und mehr die komische Seite der Geschichte.
Die Feier war vorüber, der Sarg wurde auf einem Gestell aus der Kirche gefahren; direkt hinter dem Pastor, einem rundlichen Mann mit Halbglatze, folgten Erika und Frank, zwei weinende, kleine Gestalten, vereint in ihrem Kummer, und doch jede für sich gefangen im eigenen Schmerz. Wenigstens hatte der Himmel Erbarmen mit ihnen. Der Regen hörte auf, die Sonne kam zwischen den Wolken hindurch und brachte die Welt zum Dampfen.
Tante Gisela, die einen Hut trug, der wie ein umgestülpter Blumentopf aussah, nickte Mia zu, als sie sich in den Trauerzug einreihten. »Und das ist dein neuer Mann?«, fragte sie mit hässlicher Neugier und musterte Rocco abschätzend.
Rocco beugte sich zu ihr herab. »Ich bin Ralf und gehöre zu Frank«, sagte er und reichte ihr die Hand.
»Zu Frank?« Tante Giselas Blick wurde spitz. »Ach, sein Mitbewohner, ja?«
Rocco bedachte sie mit einem sehr charmanten Lächeln. »Genau der.«
Dankbar registrierte Mia, dass Rocco es geschickt vermieden hatte, Tante Gisela an Mias und Franks Hochzeit zu erinnern, auf der sie ihm schon einmal begegnet war.
Am offenen Grab blieb Mia einen Moment stehen.
»Erde zu Erde …«
Wie schnell so ein Leben doch zu Ende sein konnte. Zurück blieb nichts als Erinnerung. Und sie zerrieb sich wegen der auf einmal so banal erscheinenden Frage, wer wen wie sehr betrogen hatte. Wie armselig.
Erika schloss sie fest in die Arme, als sie ihr kondolierte. »Es ist alles so entsetzlich«, schluchzte sie und klang dabei so, als meine sie noch viel mehr als nur den plötzlichen Tod ihres Mannes, mit dem sie dreiundvierzig Jahre verheiratet gewesen war.
Zaghaft wandte Mia sich Frank zu, der irgendwann in der Kirche angefangen hatte zu weinen und seitdem nicht mehr aufhörte. Auch er schloss sie fest in die Arme, und diesmal schreckte sie vor seinen Berührungen nicht zurück. Schluchzend vergrub Frank sein Gesicht an ihrem Hals, sie strich ihm beruhigend über den Rücken und hielt ihn fest. Seine Trauer bestürzte sie. Frank war schon immer ein sehr emotionaler Mann gewesen, doch so aufgelöst und verzweifelt hatte Mia ihn noch nie erlebt, nicht einmal bei ihrer Trennung.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie. Auch sie meinte viel mehr als nur den Tod ihres ehemaligen Schwiegervaters, und auf einmal kamen ihr selbst die Tränen.
»Ach, Süße«, Frank zog sie noch einmal an sich, es war nicht mehr klar, wer wen festhielt, und dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn und löste sich behutsam aus seiner Umarmung.
Nachbarn und Verwandte umringten ihn, jeder sprach die üblichen Worte der Anteilnahme, aber er hörte kaum hin, die Tränen liefen über sein Gesicht, hilflos war er den neugierigen Blicken ausgesetzt. Mia hätte ihn gern beschützt und in eine ruhige Ecke gezogen, abseits vom allgemeinen Wehklagen. Stattdessen blieb sie nur am Rand der Gesellschaft stehen, müde und leer.
Aber dann sah sie Rocco, der Frank ungeachtet all der Blicke mit seinen langen Armen umschlang und ihn fort von der Meute in einen Seitenweg führte. Er hielt ihn fest, genau wie sie selbst es nur wenige Augenblicke zuvor getan hatte, und gab ihm Platz für seine Not. Frank hob den Kopf und sah Rocco an, der ihm durch die Haare strich und seine Stirn an Franks Stirn legte. Ein schmerzhaftes Gefühl des Verlusts erfasste Mia, und erneut schossen ihr Tränen in die Augen.
Doch da war noch ein anderes, versöhnliches Gefühl, das sich warm in ihrem Bauch ausbreitete. In Roccos Augen lag eine so unbeschreibliche Zärtlichkeit, in seinen Armen konnte Frank sich entspannen und zur Ruhe kommen, das war unübersehbar. Es war gut, dachte Mia, dass es jemanden gab, bei dem Frank so zuhause sein konnte, wie es ihm bei ihr vielleicht nie möglich gewesen war. Es war gut, dass ihn jemand so liebte, wie er war.
»Ihr bleibt doch über Nacht, ja?«
Erikas Frage überraschte Mia und riss sie aus ihren trägen Gedanken. Sie hatten im Dorfgasthof zu Mittag gegessen, danach löste sich die Trauergesellschaft langsam auf. Nur die Verwandten fanden sich noch bei Kaffee und Kuchen in Lohmanns Garten ein. Frank hatte darauf bestanden, dass Mia und Rocco mitkamen. Sie hatten Roccos Auto befreit, sich endlich frisch gemacht und umgezogen, und dann saß Mia im Schatten eines großen Sonnenschirms und kämpfte mit Kopfschmerzen. Das Gewitter hatte keine Abkühlung gebracht,
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