Ebbe und Glut
seine Geste jedoch nicht vertraut, sondern ungewohnt, überraschend fremd. Mia drehte den Kopf leicht von ihm fort, doch auf der anderen Seite begegnete sie Rocco, der ihr noch fremder war. Sie drehte sich wieder zu Frank zurück. Rocco legte einen Arm über sie, damit er Frank berühren konnte. Sie spürte seinen Atem in ihrem Haar und seinen Herzschlag in ihrem Rücken. Frank vergrub mit einem leisen Seufzer seinen Kopf an ihrer Brust. Eng umschlungen lagen sie da, spürten einander, verunsichert und verwirrt über all das Fremde, das gleichzeitig so vertraut war.
Auf der Treppe erklangen Schritte. Nach einem kurzen Klopfen wurde die Tür aufgerissen und jemand schaltete das Licht an. Erschrocken stoben sie auseinander.
»Was macht ihr denn hier im Dunkeln?«, fragte Erika erstaunt. Sie hielt einen Stapel Handtücher im Arm.
»Fernsehen«, sagte Frank hastig.
Erika warf einen irritierten Blick auf den schwarzen Bildschirm. »Fernsehen?«
»Es ist grade Sendepause«, erklärte Rocco ernsthaft.
»Aha.« Erikas Blick wurde noch eine Spur irritierter. »Ich richte dir das Nähzimmer nebenan her,« wandte sie sich an Mia. »Auf dem kleinen Sofa kann man auch gut schlafen. Unten im Gästezimmer habe ich ja bereits Hilde einquartiert.«
»Das Nähzimmer ist doch prima.« Mia richtete sich auf. »Aber du musst das Bett nicht beziehen. Das mache ich selbst.«
Erika protestierte nicht. »Ist gut«, sagte sie müde. »Die Bettwäsche habe ich schon rausgelegt.« Verloren stand sie in der Mitte des Raums. »Dann wünsche ich euch eine gute Nacht.«
Frank stand auf. »Ich komme noch mal mit runter.« Er nahm ihr die Handtücher ab, legte sie auf einen Stuhl und begleitete Erika hinaus.
»Sendepause, ja?« Mia ließ sich kichernd zurück auf das Bett fallen.
Roccos Lachen war leise und kehlig. »Mir ist so schnell nichts Besseres eingefallen.«
»Wieso schafft man es mit dir nicht mal, eine Beerdigung in angemessener Würde zu überstehen?«
»Mit dir doch auch nicht.«
Sie sahen einander an und lachten erneut. Da war sie wieder, diese ungewohnte Leichtigkeit.
Mia stand auf. »Ich gehe ins Bett.«
Rocco nickte. »Schlaf gut.« Er streckte eine Hand aus und berührte Mia sanft am Arm.
»Du auch.« Mia griff unsicher nach seiner Hand und drückte sie leicht. Sie musste sich noch an dieses freundliche Gefühl gewöhnen, das sie auf einmal für Rocco empfand.
Sie hatte ein paar Sachen zum Frischmachen eingepackt, aber abgesehen von ihrem schwarzen Kleid weder an Wäsche zum Wechseln noch an ein Nachthemd gedacht. Ihr rotes Top war dreckig und verschwitzt, sie wusch es zusammen mit ihrer Unterwäsche im Waschbecken aus und hängte die Sachen zum Trocknen über einen Handtuchhalter. Sie würde einfach nackt schlafen, das war in dieser schwülwarmen Nacht ohnehin am angenehmsten.
Als sie, frisch geduscht und nur in ihr Handtuch gewickelt, aus dem Bad in den kleinen Flur trat, kam Frank gerade die Treppe herauf.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Mia besorgt.
»Nicht so doll. Aber ich glaube, sie wird es schaffen. Sie sitzt noch mit Hilde bei einem Eierlikör in der Küche. Es ist gut, dass sie nicht allein ist.«
»Ja.« Mia berührte leicht seinen Arm. »Niemand sollte in so einer Nacht allein sein.«
Sie gab sich einen Ruck. Vielleicht würde sich so schnell keine Gelegenheit mehr bieten. »Mir war übrigens nie klar, dass du mich damals mit Stefan gesehen hast.«
»Stefan?«
»Mein Kollege. Du weißt schon – beim Schlagermove.«
»Ach je, Mia!« Frank wirkte bestürzt. »Woher weißt du das denn?«
»Von Rocco. Er hat es mir heute erzählt. Ich … es gab nur dieses eine Mal. Es ist mir wichtig, dass du das weißt. Rocco meinte, du hättest etwas anderes vermutet.«
»Rocco!«, schimpfte Frank. »Ich höre immer nur Rocco. Was hat der damit zu tun?« Er riss die Tür zu seinem Schlafzimmer auf. »Du blöde Tratschtante«, rief er aufgebracht und schaltete das Licht ein.
»Was denn?« Verwirrt blinzelte Rocco in die plötzliche Helligkeit.
»Wieso erzählst du Mia, dass wir sie damals beim Schlagermove gesehen haben? Das ist nur eine Sache zwischen ihr und mir.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie es mir übel nimmt. Im Gegenteil, jetzt habt ihr euch endlich mal wieder was zu erzählen.« Rocco stand auf. »Ich gehe mal duschen.« Mit einem spöttischen Blick in Franks Richtung fügte er hinzu: »Solltest du vielleicht auch machen. Am besten eiskalt.«
»Licht aus!«, brüllte Frank.
Mia
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