Ebbe und Glut
Mann? Sie würde auch alles alleine schaffen!
Annika rang sich ein Lächeln ab. »Dass du mal eine Beziehung mit diesem Stefan haben würdest, hättest du aber auch nie gedacht, oder?«
»Oh, wir haben keine Beziehung. Das ist nichts Ernstes, nur eine kleine Affäre.«
»Tatsächlich? Dafür verbringt ihr aber erstaunlich viel Zeit miteinander.«
Das stimmte. Mia sah Stefan fast täglich. Er hatte ein kleines Büro in Eimsbüttel gemietet, das sie mit ihm teilte – schließlich arbeiteten sie so eng zusammen, da machte das Sinn. Und abends gingen sie meistens gemeinsam essen und anschließend zu einem von ihnen nach Hause. Auch das machte irgendwie Sinn. Sie arbeiteten dort oft genug weiter.
»Wir arbeiten einfach so viel zusammen«, sagte Mia und spürte selbst, dass es wie eine Rechtfertigung klang. Was war so schlimm daran, dass sie ständig mit Stefan zusammen war? Sie verstand es selbst nicht.
Ein eigenartiges Lächeln huschte über Annikas Gesicht.
»Ich muss Torben vom Fussball abholen.« Mühsam erhob sie sich, als koste sie jede Bewegung ungeheuer viel Kraft.
Mia umarmte sie fest. »Es wird alles gut, so oder so.«
Annika nickte stumm und wenig überzeugt.
Mia war sich sicher, dass Stefan es nicht lange mit ihr aushalten würde. Sein Verschleiß an Frauen war schon immer schwindelerregend gewesen, und sie wusste nicht mal, ob er nicht auch jetzt noch andere Geschichten laufen hatte. Zuzutrauen war es ihm. Doch das bedrückte sie nicht, sondern gab ihrer Affäre eine erstaunliche Leichtigkeit. Jeder Tag konnte der letzte sein, das wusste sie nur zu gut. Irgendwann würde Stefan fort sein, und sie würde einfach weiter gehen.
Doch dann gestalteten sich die Dinge unerwartet anders. Mia begleitete Stefan auf eine große Party, auf der sich die Kreativen der Stadt tummelten. Früher hatte Mia sich von der Dynamik mitreißen lassen, die von all diesen Menschen ausging, von ihrem Esprit, ihrer Schnelligkeit, ihrem lässigen Auftreten. An diesem Abend jedoch langweilte sie sich unendlich. Sie hielt gerade genug Small Talk, um nicht unhöflich zu erscheinen.
Wenigstens war die Musik gut. Mia begab sich auf die Tanzfläche und tanzte ununterbrochen. Stefan gesellte sich zu ihr, und sie spürte, wie die Blicke anderer Frauen ihr neidvoll folgten. Mia genoss es, mit Stefan zu tanzen, zu spüren, wie ihre Körper sich im selben Rhythmus bewegten und sich aneinander rieben. Die erotische Spannung zwischen ihnen war unübersehbar, und im Laufe der Nacht folgten ihnen nicht nur die Blicke der anderen Frauen, sondern auch die der Männer.
Als sie endlich im Taxi saßen, das sie in Stefans Wohnung brachte, war Mia erschöpft und aufgedreht zugleich. In erwartungsvoller Spannung saß sie neben Stefan, spürte seine Wärme, seine Kraft, seine Männlichkeit. Doch statt wie erwartet sofort ins Schlafzimmer zu stürmen, ging Stefan in die Küche.
»Möchtest du auch noch was trinken?«, fragte er. Mit einem Glas Wasser in der Hand setzte er sich halb auf den Küchentisch und musterte Mia lange. Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank einen Schluck.
»Du hast dich gelangweilt, stimmt's?«, fragte Stefan.
»Nicht, nachdem wir angefangen haben zu tanzen. Ich habe ewig nicht mehr getanzt, dabei macht mir das so viel Spaß. Besonders mit dir.« Mia stellte sich zwischen Stefans lange Beine und fuhr mit den Händen an seinen Schenkeln entlang. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und küsste sie zart auf die Stirn. »Oh Mia«, seufzte er. »Du bist eine so wundervolle Frau. Ich fürchte, mich hat's total erwischt.«
Verwundert schaute Mia ihn an. Der Ausdruck in seinen Augen überraschte sie. Als Stefan sie küsste, hatte sie den Verdacht, dass sie soeben von einer Affäre in eine Beziehung hinübergeglitten waren.
30
Nele belegte eine Scheibe Toast mit dünnen Gurkenscheiben. Sie schnitt das Brot in kleine Stücke und verschwand dann damit aus der Küche.
»Sie isst ja wieder«, stellte Mia fest.
Annika nickte und seufzte erleichtert. »Es darf ihr niemand dabei zusehen und sie zählt immer noch wie blöd Kalorien, aber es sieht so aus, als hätten wir das Schlimmste überstanden.«
»Wie gut! Gilt das auch für Matthias und dich?«
Annika stellte einen Teller mit Weihnachtskeksen auf den Tisch, reichte Mia einen Becher Kaffee und setzte sich zu ihr an den großen Küchentisch. Sie war ungeschminkt, trug einen uralten, verwaschenen Jogginganzug, und ihre Haare benötigten wieder mal –
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