Ebbe und Glut
schon«, forderte Mia sie auf. »Dafür sind sie doch da. Oder hätte ich sie wegschmeißen sollen?«
»Ach, meine Kleine.« Bekümmert schloss ihre Mutter sie in die Arme.
Mia war immer noch die Kleine, auch mit vierzig Jahren. Die zwei Jahre Vorsprung, die ihre Schwester Marie hatte, würde sie nie aufholen. Genauso wenig, wie sie jemals an Maries Erfolge heranreichen würde. Marie war Cellistin. Sie spielte in den großen Orchestern der Welt und war auch solo sehr erfolgreich unterwegs. Auch privat lief alles rund. Bei einem Schüleraustausch in Frankreich hatte sie Jean-Luc kennengelernt, der ebenfalls Musiker war. Heute war er ihr Mann und der Vater ihrer bezaubernden beiden Töchter. Marie hatte nie einen anderen Mann geliebt.
Manchmal fragte Mia sich, wie das war, wenn man nicht suchte und ausprobierte, so wie sie es getan hatte. Wenn man nicht im Laufe der Jahre an der Seite der unterschiedlichsten Männer entdeckte, was man mochte und was nicht – im täglichen Einerlei genauso wie in der Lust und Liebe. Wenn man nie scheiterte und von vorne anfing, sondern von Anfang an eine klare Richtung vorgegeben war. War Maries Leben reicher, weil die Beständigkeit ihr Raum und Sicherheit zum Entfalten gab? Oder war es beschränkter, weil ihr Erfahrungen fehlten, an denen sie wachsen konnte?
Auch Mia hatte immer nach Beständigkeit gesucht, und doch war ihr Leben laufend in Bewegung. Vier Beziehungen gingen in die Brüche, viermal hatte sie von ewiger Liebe geträumt, und stand am Ende doch immer mit leeren Händen da. Jedes Ende war schmerzhaft gewesen, jedes Mal hatte sie geglaubt, nie wieder einen Mann so lieben zu können wie den letzten. Doch keine Trennung war so schlimm wie die von Frank.
Früher hatte Mia sich damit getröstet, dass sie jung genug war, um noch einmal von vorne zu beginnen. Es war noch alles drin – Mann, Kinder, Haus, das ganze Programm. Aber diesmal war das nicht so. Sie gab sich keinen Illusionen hin. In ihrem Alter war es nahezu aussichtslos, eine neue Beziehung zu beginnen. Die guten Männer waren alle verheiratet, die weniger brauchbaren zumindest in halbwegs festen Bindungen, und die übriggebliebenen Trottel wollte natürlich auch Mia nicht haben.
Dazu kam, dass sie überzeugt davon war, sich so schnell nicht wieder zu verlieben. Frank hatte ihr das Herz ausgerissen, und Herzen wuchsen bekanntermaßen nicht einfach wieder nach. Ein paar glückliche Jahre lang hatte sie sich in Sicherheit gewogen und geglaubt, nie wieder allein sein zu müssen. Und nun saß sie mit leeren Händen und blutendem Herzen unter dem Weihnachtsbaum ihrer Eltern und wusste nicht, wohin mit dem Rest ihres Lebens, der auf einmal wieder ganz frei zur Verfügung stand.
Betont munter stürzte Mia sich ins Familiengetümmel und bemühte sich, ihren Trübsinn zu verdrängen. Sie verbrachte Stunden mit Florence und Chantalle auf dem Fußboden und half ihnen, ihr neues Playmobilhaus zusammenzubauen. Sie stopfte sich mit der Schokoladen-Weihnachtstorte ihrer Mutter voll und machte anschließend mit der ganzen Familie einen Verdauungsspaziergang. Sie zwang sich, nur schöne, fröhliche Gedanken zuzulassen.
Irgendwann ertappte Marie sie doch.
»Na, Schwesterchen, was schaust du denn so trüb aus der Wäsche?« Sie hockte sich neben Mia auf das Sofa, die nachdenklich ihre Eltern betrachtete.
Barbara Sommer sah mit hochgelegten Füßen ihre Weihnachtspost durch und sprach dabei mit Rudi, dem Hund.
»Lisbeths Rheuma wird auch immer schlimmer. Die Ärmste kann nicht mehr so munter herum springen wie du«, sagte sie.
»Ach, so munter springe ich doch auch nicht mehr herum«, entgegnete ihr Mann Walter, der die Kerzen am Weihnachtsbaum beaufsichtigte.
»Dich meine ich doch auch gar nicht. Ich spreche mit Rudi.« Liebevoll beugte Barbara sich zu dem Jack-Russell-Terrier herab, der ihr mit schräg gelegtem Kopf zuhörte.
Walter seufzte theatralisch. »Eure Mutter redet mittlerweile mit dem Hund mehr als mit mir. Ich glaube, sie liebt ihn sogar mehr als mich.«
»Ach, Walter«, seine Frau lachte. »Du hast meine Liebe vierzig Jahre bekommen, jetzt sind mal andere dran. Nicht wahr, mein Herzchen?«
»Herzchen? Seit wann nennst du Papa Herzchen?« Marie runzelte erstaunt die Stirn.
»Sie meint den verdammten Hund . « Walter warf einen verzweifelten Blick in die Runde. »Da seht ihr es!«
Mia und Marie lachten schallend.
»Ich schaffe es jetzt kaum noch die vielen Treppen hinunter und überlege daher schon
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