Ebbe und Glut
der Kabine so schnell und unauffällig zurück, wie er sie betreten hatte.
Mia begann verwundert und verwirrt, die vielen kleinen Häkchen vor ihrer Brust zu öffnen. Sie hatte ganz eindeutig geträumt. Das hier war nicht der Arthur, den sie kennengelernt hatte. Der Arthur, den sie kannte, war distanziert und nur mit sich selbst beschäftigt. Er hatte Mia kaum wahrgenommen und keinerlei Interesse verspürt, sie anzufassen und ihr näher zu kommen. Dieser Arthur hier hingegen hatte sie verführt, er hatte sie mit seinen Blicken ausgezogen, bis sie vollkommen nackt vor ihm stand.
Dieser Arthur hatte sie begehrt.
Die Weihnachtszeit kam. Mia hatte ihren Job noch. Aber sie war nicht froh darüber. Sie fing an, sich nach etwas Neuem umzusehen, doch es war aussichtslos. Niemand schien sich für sie zu interessieren. Dabei hatte sie immer geglaubt, gute Arbeit zu leisten, ein kleines, aber wichtiges Rädchen im Getriebe zu sein. Jetzt kam sie sich unfähig und überflüssig vor.
Bedrückt sah sie dem Jahreswechsel entgegen. Es war ihr erster als geschiedene Frau, ihr zweiter ohne Frank. Sie hatte geglaubt, sich diesmal besser zu fühlen, aber sie erkannte voller Schrecken, dass ihre Wunden nicht geheilt waren, sondern immer noch schmerzten wie rohes Fleisch.
»Ich weiß nicht, woran das liegt«, sagte sie verzweifelt zu Annika. »Wir sind jetzt seit anderthalb Jahren getrennt, aber ich komme überhaupt nicht zur Ruhe. Ich fühle mich kein bisschen besser als damals.«
»Du hältst zu sehr fest«, erklärte Annika. Die Psychologin in ihr hatte immer eine Erklärung parat. »Wenn du alles, was mit Frank zu tun hat, immer nur verdrängst, wirst du ihn nie los.«
»Was soll ich also deiner Meinung nach tun?«
»Mit ihm reden. Dich von ihm verabschieden.«
»Das kann ich nicht.«
»Du solltest es wenigstens versuchen.«
Mia wich Annika aus. »Schau mal, das hier klingt gut.«
Wieder mal weigerte sie sich, weiter über Frank nachzudenken. Sie standen in der Kinderbuchecke im Thalia-Buchhaus in der Spitalerstraße. Annika suchte noch ein Weihnachtsgeschenk für ihren neunjährigen Sohn Torben. Mia vertiefte sich betont konzentriert in die Bücher, die auf einem Tisch auslagen. Ihr wundes Herz schmerzte bei jeder Berührung. Es war besser, man ließ es in Ruhe, dann fühlte Mia sich auch gut.
Annika brauchte ewig, bis sie sich entschieden hatte. Mia tat der Rücken weh. Langes Stehen strengte sie in letzter Zeit immer häufiger an. Endlich traten sie den Weg ins Erdgeschoss zu den Kassen an. Die Schlange davor war endlos, wie jedes Jahr in der Weihnachtszeit. Während sie warteten, überlegten Mia und Annika, in welchem Café sie sich am besten vom Weihnachtsshoppingstress erholen konnten.
»Du, der Typ da drüben starrt dich die ganze Zeit an«, sagte Annika plötzlich.
Mia drehte sich verwundert um. Zunächst versperrten ihr einige Leute die Sicht, aber dann sah sie den Mann in der Hörbuchecke, der, ein CD-Paket in der Hand, tatsächlich genau in ihre Richtung sah. Dunkles, fast schwarzes Haar mit einem Hauch von Grau. Ein eleganter Wollmantel. Ozeanblaue Augen, deren Leuchten und Funkeln Mia nicht mehr losließ.
Arthur. Schon wieder Arthur.
Das gab es doch gar nicht. Ihre letzte Begegnung war erst zwei Wochen her.
»Ach, du meine Güte«, sagte Mia, überrascht und verwundert. »Ich glaube, der Kerl verfolgt mich.«
»Kennst du den etwa?« Annika reckte neugierig den Hals.
Mia war unbehaglich zumute. Sie hatte Annika nie von Arthur erzählt. Was sollte sie nun sagen? Wie sollte sie dieses unverhohlene Starren erklären?
»Ja, ich kenne ihn.«
Jetzt machte Arthur auch noch Anstalten, sich in ihre Richtung zu bewegen. Hastig trat Mia aus der Schlange und ging auf ihn zu. Es war besser, wenn sie mit Arthur nicht direkt vor Annikas neugierigen Ohren sprach.
»Verfolgst du mich etwa?«, fragte sie unfreundlich anstelle einer Begrüßung.
»Warum sollte ich?« Arthur stand dicht vor ihr. Groß. Männlich. Umwerfend.
Mia schrumpfte neben ihm ein gewaltiges Stück. Sie reckte ihr Kinn betont nach oben, um nicht völlig unterzugehen.
»Erst tauchst du im Alsterhaus auf, jetzt hier«, sagte sie. »Das ist mir allmählich unheimlich.«
Arthur grinste breit. »Ich kaufe bloß Weihnachtsgeschenke für meine Lieben. Wie Millionen anderer Menschen auch.«
Für meine Lieben. Arthur besaß so etwas wie eine Familie? Kaum zu glauben.
»Kennst du das hier?« Er hielt eine CD hoch. Das Rilke-Projekt . Schöne Musik,
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