Ebbe und Glut
länger, die Wohnung zu verkaufen« , las Mias Mutter aus dem Brief ihrer alten Schulfreundin vor, und ihr Mann und der Hund hörten geduldig zu.
Eine leise Traurigkeit erfasste Mia. Würde sie jemals so ein eigenes Heim, eine eigene Familie haben, in der sie in aller Stille alt werden konnte? Mit Frank hatte sie es nicht mal geschafft, Kinder zu bekommen.
»Lass uns noch ein bisschen warten«, hatte er immer wieder gesagt.
»Aber ich werde allmählich zu alt«, hatte Mia erwidert.
Frank hatte gelacht. »Ach, Unsinn, Süße, du bist doch noch jung, du hast noch ewig Zeit, Kinder zu kriegen.«
Nach männlicher Zeitrechnung mochte das stimmen, nach weiblicher hingegen schrumpften die Jahre erschütternd schnell zusammen. Sie wollte aber auch nicht einfach die Pille absetzen, wie viele Frauen es taten, und ihren Mann vor vollendete Tatsachen stellen. Frank sollte laut und deutlich Ja zu einem Kind sagen – und zwar von Anfang an.
So war die Zeit vergangen, bis es zu spät war.
Noch etwas wurde Mia auf einmal bewusst. Ihre Eltern waren allmählich in einem Alter angekommen, in dem es nicht mehr selbstverständlich, sondern ein kostbares Geschenk war, dass sie alle hier so gesund beieinander saßen. Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie sah, wie ihr Vater sich schwerfällig zu Chantalle und Florence hinab beugte und mit ungeschickten Bewegungen eine Playmobilfigur wieder an ihren Platz stellte.
»Ich bin so froh, dass ich euch alle habe«, sagte sie zu Marie. »Mir wird grade bewusst, wie wichtig ihr mir seid.«
»Ach, Kleene …« Marie drückte gerührt ihre Hand. »Und sonst? Alles in Ordnung?«
Mia lächelte tapfer. »Doch, natürlich.«
»Was machen die Männer? Gibt es da jemanden?«
»Nein.«
»Wie schade. Du solltest dich mehr umsehen. Es gibt so viele tolle Männer auf dieser Welt, ganz ehrlich.«
»Ach …«, Mia grinste. »Woher willst denn ausgerechnet du das wissen?«
»Na, meinst du etwa, ich bin blind? Ich schaue mir gerne Männer an. Und ich kann dir versichern, dass da draußen noch so einige wirklich tolle Typen frei rumlaufen.«
»Vielleicht in Paris. In Hamburg nicht.«
»Natürlich laufen auch in Hamburg tolle Männer herum«, mischte sich ihre Mutter ein. »Aber solange du lieber die Zimtsterne von deinem Exmann isst, siehst du sie natürlich nicht.«
Das saß. Mia schluckte. Sie wusste, ihre Mutter meinte es nicht so, vermutlich war ihr gar nicht bewusst, wie sehr sie Mia traf.
Marie versuchte, die Situation zu retten. »Hast du nicht Lust, mit uns nach Paris zu kommen und Silvester bei uns zu verbringen? Dann kannst du ja mal die französischen Männer in Augenschein nehmen.«
Mia rang sich ein Lächeln ab. »Das ist lieb gemeint. Aber ich feiere Silvester zusammen mit Henny in Hamburg. Wir gehen auf eine große Party. Da kann ich mir dann ja die Hamburger Männer ansehen«, fügte sie in Barbaras Richtung hinzu.
Mia stand auf. Sie brauchte dringend frische Luft. »Wie sieht's aus? Kommt jemand mit spazieren?«
Rudi sprang begeistert an ihr hoch und flitzte zur Tür. Wenigstens der Hund würde ihr die Laune nicht verderben.
Arthur verbrachte den Jahreswechsel in einer Hotelbar nahe der Elbe, hoch über den Dächern der Stadt. Er war von Geschäftspartnern mitgeschleppt worden, und machte das, was er in solchen Situationen immer machte: gut aussehen und alle Gefühle verdrängen. Er ließ sich bei allen wichtigen Leuten mal blicken, hielt Small Talk und zeigte das strahlendste Lächeln, das er auf Knopfdruck bieten konnte. Er gehörte zu den wenigen Männern, die nicht in Begleitung gekommen waren, und wurde von den Solofrauen schnell in Augenschein genommen. Aber keine von ihnen interessierte ihn. Höflich, aber bestimmt ließ er sie alle sitzen. Nicht lange nach Mitternacht schlich er sich davon.
Draußen auf der Straße geriet er in eine Gruppe von Leuten, die sich das Feuerwerk an der Elbe angesehen hatten und nun zum Feiern Richtung Reeperbahn weiter zogen. Die Männer und Frauen lachten und grölten ausgelassen und prosteten Arthur zu. Einer von ihnen legte ihm einen Arm um die Schulter.
»Prost Neujahr, Alter!«, rief er. Er war gut einen Kopf kleiner als Arthur, blond, untersetzt und schon ziemlich betrunken. »Das war ein scheiß Jahr, was?«
Arthur versuchte, den besoffenen Kerl abzuwimmeln, der ihm eine Sektflasche unter die Nase hielt. Angewidert schob er sie zur Seite.
»Stimmt«, sagte er, um seine Ruhe zu haben. »Es war ein scheiß Jahr. Das
Weitere Kostenlose Bücher