Ebbe und Glut
ein halbes Dutzend Neujahrsgrüße erhalten, vermutlich war das jetzt Marie, von der hatte sie noch nichts gehört. Offenbar feierte man in Paris auch die ganze Nacht.
»Frohes neues Jahr und alles Gute für dich, Mia. Gruß Arthur.«
Verwundert starrte sie auf die Worte im Display. Eben hatte sie noch an Arthur gedacht, und nun schrieb er ihr, mitten in der Nacht. Was für ein Zufall! Sie dachte sonst überhaupt nie an Arthur – wenn sie ihm nicht gerade beim Shopping über den Weg lief. Doch Arthur, der launische, abweisende, kalte Arthur, der sie oft genug wie eine Hure behandelt hatte, dieser Arthur schickte ausgerechnet ihr einen Neujahrsgruß.
Zum ersten Mal kam Mia der Gedanke, dass Arthur ein sehr einsamer Mensch war.
Sie schrieb ihm zurück.
»Ich wünsche dir auch ein frohes neues Jahr und nur das Beste für dich. Liebe Grüße, Mia.«
Sie überlegte lange, ob sie noch mehr dazu schreiben sollte. Sie könnte Arthur fragen, wie es ihm ging, oder ob er Lust hätte, sie auf einen Kaffee zu treffen. Aber hatte sie überhaupt Lust dazu? Mia legte das Handy auf den Nachttisch zurück und zog sich die Decke wieder bis zur Nase. Kurz darauf kündigte ihr Handy erneut den Eingang einer Nachricht an.
»Danke. Gut gefeiert?«
Mia drückte das Handy im Dunkeln an ihre Brust, in der ihr Herz ein paar überraschte Hüpfer machte. Arthur war offenbar genauso alleine wie sie – und genauso wach, obwohl es fast halb sechs war, auch für eine Silvesternacht recht spät.
»Ja, war ein tolles Silvester. Und bei dir?«
»Es war okay.«
»Okay klingt aber nicht so richtig gut.«
»Nein, aber okay ist okay. Schlaf schön!«
»Du auch. Gute Nacht!«
Mia lächelte, als sie das Handy endgültigt auf den Nachttisch zurücklegte. Arthur. Immer wieder gut für Überraschungen.
13
Es war der schneereichste Winter seit Jahrzehnten. Von Weihnachten bis Mitte März versank Norddeutschland fast ununterbrochen im Schnee. Nach einer kurzen Tauwetterphase im Januar verwandelten sich in Hamburg Gehwege und Treppen in spiegelglatte Eisflächen, die den Fußgängern monatelang zu schaffen machten. Viele Menschen stürzten und verletzten sich dabei schwer. Mia fand den Winter trotzdem großartig. Der Schnee ließ die Welt heller und freundlicher erscheinen.
Das neue Jahr begann für sie allerdings alles andere als freundlich. Gleich in den ersten Januartagen verlor sie ihren Job. Die Kündigung kam trotz aller Differenzen, die sie mit Dagmar Roth hatte, überraschend. Erst vor wenigen Wochen war Mias Probezeit abgelaufen, und seitdem fühlte sie sich sicher. Sie würde das Arbeitsjahr irgendwie rumkriegen und die Schikanen ihrer Chefin tapfer ignorieren. Dass Norbert Roth ihr nun kündigte, erstaunte sie. Offenbar hatten die Roths unterm Tannenbaum ein paar Machtkämpfe ausgetragen, die Dagmar Roth für sich entschieden hatte.
»Ihre Kündigung hat ausschließlich wirtschaftliche Gründe«, behauptete Norbert Roth und rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Sie wissen, wir haben das Autohaus Lübbe als Kunden verloren, das ist für uns ein großer Einbruch.«
Mia sagte nichts. Sie wussten beide, dass für das Autohaus zwei neue, vielversprechende Kunden gekommen waren, was nicht zuletzt auch Mias Verdienst war.
»Ich weiß, das ist kein schöner Start ins neue Jahr, aber ich bin sicher, dass wir uns finanziell einig werden«, fügte Norbert Roth fast entschuldigend hinzu.
»Zu wann?«, fragte Mia, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Es wäre schön, wenn Sie noch bis zum Ende der Woche bleiben könnten, um Ihre letzten Arbeiten abzuschließen.« Norbert Roth verstand es, die fristlose Kündigung freundlich zu verpacken.
Mia stand auf. Erstaunlicherweise verschluckte der Abgrund sie nicht, der sich vor ihr auftat.
»Schade«, sagte sie mit belegter Stimme, »ich wäre gerne bis zum Sommer geblieben.«
Norbert Roth nickte bekümmert.
Sabine Müller, die Sekretärin schaute traurig von ihrem Schreibtisch auf, als Mia an ihr vorbei kam. Sie wusste es also schon.
»Es tut mir so wahnsinnig leid«, flüsterte sie und rollte vielsagend mit den Augen. Auf der anderen Seite des kleinen Flurs stand Dagmar Roth im Kopierraum.
»Frau Sommer«, rief sie in ihrem üblichen Befehlston herüber. »Sie können gleich mal die Kopien mitnehmen und auf die Pressemappen verteilen.«
Mia zögerte. Sie stand mitten im Flur zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Frauen. Ihre Augen wanderten von Sabine
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