Ebbe und Glut
noch?«, fragte die Wirtin erneut in unfreundlichem Ton, und Mia hoffte, dass es wenigstens irgendwo einen Getränkeautomaten gab. Doch dann fügte die Frau zu ihrer Überraschung hinzu: »Gehen Sie mal rüber in den Schankraum. Kann sein, dass mein Mann die Küche noch nicht geschlossen hat.«
In dem kleinen Schankraum saßen tatsächlich Gäste - Männer, die alle so aussahen, als würden sie Willi oder Kalle heißen und schon seit Menschengedenken in dieser Kneipe hocken, wenn sie nicht gerade auf dem Bock ihres Trucks saßen. Neugierig musterten sie Mia.
»Jetzt noch?«, fragte auch der Wirt, als sie nach dem Speiseangebot fragte. Und genau wie seine Frau war er zwar unfreundlich und abweisend, brachte Mia dann aber doch die Karte. Wie befürchtet gab es die üblichen Fernfahrergerichte – Erbsensuppe, Currywurst, panierten Seelachs. Mia schüttelte sich innerlich bei der Erinnerung an ihren vertrockneten Fisch vom Mittag und entschied sich für Spiegeleier mit Bratkartoffeln, die sich als überraschend gut entpuppten. Nach dem Essen erstand sie noch zwei Flaschen Wasser und stieg erleichtert die schmale Treppe zu den Zimmern hinauf. Sie sehnte sich nach einem Bett und Ruhe. Was für ein Tag!
Arthur reagierte nicht auf ihr Klopfen. Vielleicht war er schon eingeschlafen. Als Mia erneut klopfte, vernahm sie hinter der Tür jedoch ein leises Geräusch. »Ich habe dir eine Flasche Wasser mitgebracht«, rief sie.
Arthur rührte sich immer noch nicht. Mia stellte die Flasche vor seine Tür und schloss ihr eigenes Zimmer auf. Da hörte sie, wie sich Arthurs Tür öffnete. Sie schaute noch einmal um die Ecke, um ihm gute Nacht zu wünschen.
Arthurs Haare waren zerzaust, sein Hemd stand halb offen und er sah aufgewühlt aus.
Mia zögerte. »Alles in Ordnung?«, fragte sie zaghaft.
Arthur nickte. Er lehnte am Türrahmen und sah sie mit einem eigenartigen Blick an. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und in seinem blassen Gesicht spiegelten sich Unsicherheit und Trauer – und Angst, wie Mia überrascht feststellte.
»He …«, sagte sie behutsam und ging auf Arthur zu.
Da fiel ihr Blick auf seine Beine.
Unter seinem rechten Hosenbein schaute ein großer, nackter Fuß heraus. Unter dem linken Hosenbein war – nichts.
»Um Gottes Willen, Arthur!«, schrie Mia entsetzt. »Wo ist dein Fuß geblieben?«
Wo ist dein Fuß geblieben Fuß geblieben Fuß geblieben?
»Da drüben«, sagte Arthur mit müder Stimme und wies mit dem Kopf auf eine Unterschenkelprothese, die hinter ihm an der Wand lehnte. Der Fuß der Prothese steckte noch in einer schwarzen Socke und einem der Boots, die Arthur an diesem Tag getragen hatte.
Wo ist dein Fuß geblieben Fuß geblieben Fuß geblieben?
Das Echo in Mias Kopf hörte gar nicht mehr auf.
»Ach, du Scheiße!« Sie schlug die Hände vor den Mund und ließ ihren entsetzten Blick zwischen Arthurs Bein und der Prothese hin und her gleiten. »Was ist das, um Himmels Willen? Ich verstehe das nicht.«
»Das ist eine Prothese«, erklärte Arthur matt.
»Das sehe ich auch. Aber wieso … ich meine, wo kommt die auf einmal her?«
Am Ende des Flurs war ein Geräusch zu hören. Jemand kam die Treppe herauf. Arthur drehte sich geschickt auf seinem einen Bein um, stützte sich mit den Armen an der Wand ab und schwang sich auf das schmale Bett in der Ecke. Mia folgte ihm und zog die Tür hinter sich zu. Sie setzte sich auf einen kleinen Sessel mit verschlissenem Bezug, der vor dem Bett stand.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie noch einmal.
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mir bei dem Autounfall tausend Knochenbrüche zugezogen habe.« Arthurs Stimme zitterte. Erst jetzt bemerkte Mia, dass seine Augen gerötet waren. »Allein mein linkes Bein haben die Ärzte sechsmal operiert. Aber das Gewebe war zu sehr zerstört, sie konnten es nicht retten.« Er vergrub sein Gesicht in den Händen.
Mia war sprachlos.
Arthur, der arrogante Anzugträger. Arthur, der erfolgreiche Geschäftsmann. Arthur, der Held, der alles konnte und wusste. Arthur, der eigenwillige Liebhaber.
Arthur, der – Krüppel.
Die letzten Puzzlestücke fügten sich aneinander. Aber das Bild, das sie ergaben, sah völlig anders aus als Mia erwartet hatte.
»Warum hast du denn nie etwas gesagt?«, fragte sie leise und erahnte die Antwort bereits.
Arthur schämte sich. Ein entstellter Körper passte nicht zu seinem Perfektionismus.
»Ich habe wohl irgendwie den Zeitpunkt verpasst«, murmelte er verlegen, ohne
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