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Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Burkhardt
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ich mir in den letzten Jahren gewünscht habe, dass ich auch mit gestorben wäre. Das hätte vieles leichter gemacht.«
    »Leichter?«, fragte Mia scharf. »Für wen denn leichter? Für deine Brüder etwa? Oder deine Eltern? Für Carols Familie? Glaubst du tatsächlich, es wäre für sie leichter gewesen, wenn du auch noch gestorben wärst?«
    Arthur antwortete nicht. In sanfterem Ton fuhr Mia fort: »Glaub mir, in meinem Leben gab es auch so manchen entsetzlichen Tag, an dem ich mich total aufgegeben hatte.« Schaudernd dachte sie an die ersten Wochen nach der Trennung von Frank. Die Leere, die sie damals erfasst hatte, machte ihr heute noch Angst. »Aber das geht vorbei. Irgendwann fühlt sich dein Herz nicht mehr so wund an und die Welt sieht nicht mehr nur noch grau und schwarz aus. Und dann gibt es auf einmal sogar wieder Tage voller Sonnenschein, und du bist froh, dass du sie noch erleben darfst. Na ja, jedenfalls war es bei mir so.«
    Hilflos brach sie ab. Das war kein Trost für Arthur, das merkte sie an seinem abwehrenden Schweigen. Vermutlich hatten ihm schon Dutzende wohlmeinender Freunde genau dasselbe erzählt. Die Zeit heilt alle Wunden. Das Leben geht weiter. Du musst vorwärts sehen, nicht rückwärts. Sie kannte diese ganzen Sprüche alle zur Genüge, und keiner half ihr, als es ihr richtig schlecht ging. Aber, so stellte sie erstaunt fest, während sie darüber nachdachte, am Ende stimmten sie alle. Ihr Leben ging einfach weiter, auch ohne Frank und ohne ihren Job bei Keutner und Lempe, und je mehr Zukunftspläne sie schmiedete, desto mehr verschwand die Vergangenheit. Nur ihre Wunden waren noch nicht richtig verheilt. Aber vielleicht war auch das nur noch eine Frage der Zeit. Wie bei Arthur. Auch er brauchte Zeit.
    Nur hatten sie die jetzt leider nicht. Fröstelnd zog Mia die Schultern hoch. Die Sonne war hinter den Bäumen verschwunden und aus der Wiese stieg feuchte Kälte auf. Sie konnten hier nicht mehr ewig sitzen bleiben. Höchste Zeit, dass sie Arthur in sein Auto beförderte und heimfuhr.
    »Arthur«, sagte sie behutsam, »mir wird ehrlich gesagt ziemlich kalt und Hunger habe ich auch. Ich finde, wir sollten weiter fahren. Von mir aus nur bis zur nächsten Raststätte, aber hierbleiben möchte ich nicht mehr lange.«
    Arthur fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und schaute zu der Kuh hinüber, die immer noch wie festgewachsen am Zaun stand. Als habe er Mias Einwand nicht gehört, sagte er zu der Kuh: »Ich hätte nur eine Sekunde lang besser aufpassen müssen, dann wäre nichts passiert. Eine verfluchte Sekunde.«
    Mia schlang die Arme um ihre Brust. »Hat man dir die Schuld an dem Unfall gegeben?«
    »Nicht offiziell.« Arthurs Blick huschte von der Kuh zu Mia. »Sämtliche Zeugen haben belegt, dass der andere Fahrer Schuld hat. Aber ich habe mindestens genauso viel Schuld, weil ich nicht schnell genug reagiert habe.«
    »Das glaube ich nicht. Du bist ein guter, verantwortungsvoller Autofahrer, aber in dieser Situation hätte vermutlich niemand etwas machen können. Es gibt Momente im Leben, da kann man einfach nichts tun, da entscheidet das Schicksal und nicht man selbst.«
    Sie spürte, wie die Kälte ihre Beine hinaufkroch. »Bitte Arthur, lass uns weiterfahren.«
    »Ich kann nicht.«
    Mia seufzte. Allmählich kam sie mit ihrer Geduld an eine Grenze. »Was schlägst du dann vor? Willst du zu Fuß nach Hause gehen?«
    »Warum nicht?« Ein gereizter Ton lag in Arthurs Stimme.
    Mia wertete das als ein gutes Zeichen. Jede Gefühlsregung, die Arthur zeigte, war gut, Hauptsache, er kam aus dieser schrecklichen Schockstarre heraus. »Na, dann viel Spaß«, sagte sie ironisch. »Das sind auch nur noch ungefähr hundertzwanzig Kilometer.« Sie stand auf. »Komm schon, wir suchen uns irgendwo ein Restaurant, wärmen uns auf und essen was.«
    »Bloß nichts essen«, stöhnte Arthur, und Mia wusste, dass sie auf einem guten Weg war. Tatsächlich erhob sich Arthur ebenfalls, langsam und schwerfällig. »Ich kann nicht mehr Auto fahren, tut mir leid. Ich gehe zu Fuß.«
    In Mia stieg Panik auf, als er ein paar unsichere Schritte in Richtung des Weidezauns machte. Sie konnte Arthur unmöglich in diesem Zustand hier alleine mitten in der Schleswig-Holsteinischen Einöde zurücklassen. Aber genauso wenig konnte sie sein Auto einfach auf der Autobahn stehen lassen. Sie hatte keine Ahnung, wie weit der nächstgrößere Ort entfernt war, aber sie hielt es für keine gute Idee, orientierungslos

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