Ebbe und Glut
dunkelrosa Narben, die seinen linken Oberarm der Länge nach durchschnitten. Bei genauem Hinsehen entdeckte Mia noch zahlreiche kleinere Narben, die Arthurs ganzen Oberkörper bedeckten. Die Chirurgen hatten gute Arbeit geleistet, fand sie. Die meisten Narben waren gut verheilt und weder aufgewölbt noch eingesunken. Oberflächlich betrachtet sah alles gar nicht so schlimm aus.
Allerdings hatten sie den schwierigsten Teil auch noch vor sich. Mit wachsender Beklemmung sah Mia zu, wie Arthur seine Hose öffnete. Sie wollte ihm etwas Tröstendes sagen, aber sie merkte, dass sie mindestens genauso viel Angst wie er hatte. Er schob sich die Hose über die Oberschenkel und eine seiner vertrauten schwarzen Unterhosen kam zum Vorschein. Die Hose glitt weiter über seine Knie, Arthur schlüpfte aus den Hosenbeinen. Rechts erschienen ein vollkommener Unterschenkel und ein vollkommener Männerfuß, groß, mit schlanken, geraden Zehen und gepflegten Nägeln, wie Mia es immer erwartet hatte.
Das linke Bein hingegen hörte zwei Handbreit unter dem Knie auf. Mia starrte auf den Stumpf, der von einem blauen, gepolsterten Strumpf wie von einem Verband umhüllt wurde. Es war nicht nötig, dass Arthur diesen Strumpf auch noch entfernte, was Mia sah, reichte ihr. Sie schloss eine Sekunde lang die Augen und hoffte, dass sich das Bild verändern würde, aber da war nach wie vor – nichts.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Das war so grauenvoll, so entsetzlich, dass ihr die Worte fehlten. Sie zwang sich, nicht aufzustehen und davonzurennen. Sie musste irgendetwas tun. Nur was?
Arthur sah sie nicht an. Er ließ sich rückwärts auf das Bett fallen und schloss die Augen. Mia betrachtete bewegt seinen entstellten Körper. All ihre Illusionen des vollkommen Mannes waren mit einem Schlag dahin. Nichts an Arthur war vollkommen, wo sie auch hinschaute, entdeckte sie Verletzungen, Brüche, Fehlstücke. Aber, das wurde ihr plötzlich klar, genau genommen wusste sie das schon die ganze Zeit, bereits Arthurs Liebesleben wies schließlich deutlich sichtbare Leerstellen auf. Warum nur hatte sie trotzdem immer geglaubt, Arthur sei die Vollkommenheit in Person?
Mia dachte an all die Blow-Jobs und Arthurs Verführungen mit Augenbinde und Fesseln. Das alles, begriff sie, hatte nur einem einzigen Zweck gedient: Sie sollte seinen versehrten Körper nicht zu Gesicht bekommen.
Als sich der erste Schock legte, spürte sie, dass sich zwischen all dem Schrecken und der Verwirrung ein neues, irritierendes Gefühl in ihr ausbreitete. Sie beugte sich vor und küsste zärtlich Arthurs Knie. Ihre Hände wanderten seinen nackten Körper entlang, ertasteten alles, was ihr bisher verborgen geblieben war.
Arthur rührte sich nicht. Mia legte sich neben ihn. Sie fühlte seine Wärme und spürte, wie sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob und senkte. Sie schielte zu ihm hinüber und bewunderte sein klassisches Profil mit der geraden Nase und den kräftigen Wangenknochen. Er sah stark und verletzlich zugleich aus, und diese unbeschreibliche Mischung aus Sehnsucht, Angst und Stärke machte ihn sehr begehrenswert.
Vorsichtig lehnte Mia ihren Kopf an seine Schulter. Seltsam, dachte sie, so oft hatte Arthur sie verunsichert, war sie sich neben ihm klein und dumm vorgekommen. Nun war der lang ersehnte Moment gekommen, an dem sie miteinander in einem Bett lagen, und auf einmal war alles ganz anders.
Sie sah das Erstaunen in Arthurs Augen, als sich ihre Blicke trafen, und dann endlich küsste er sie.
23
Sie hatte sich alles ganz anders vorgestellt. In ihren Träumen war explodierende Leidenschaft zwischen ihnen, ekstatische Lust, brennendes Verlangen. In ihrer Fantasie verlor sie sich in Arthurs Umarmungen, so, wie sie sich verlor, als er sie verwöhnte, während sie gefesselt war.
In Wahrheit quetschten sie sich beide in ein altes, enges Hotelbett, das leise quietschte, als Arthur sich auf ihr bewegte. Er nahm sie mit einer Verzweiflung, die weh tat. Seine Küsse waren hart und drängend, seine Berührungen grob, und als er in sie eindrang, viel zu schnell und heftig, spürte sie mehr Schmerz als Lust.
Mia fühlte sich unwohl. Sie hätte dringend eine Dusche und Seife gebraucht, und noch dringender eine Zahnbürste. Arthur roch erstaunlich sauber, er hatte offenbar die Zeit, in der sie essen war, genutzt, um sich zu waschen. Trotzdem umgab ihn ein fremder, abgestandener Geruch, der Mia abstieß.
Hinterher lagen sie dicht beieinander und
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