Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
bleiben, um die Mutter nicht zu beunruhigen. Vor mir liegt ein ganzer Tag, und nichts kann mich davon abhalten, das zu tun, was ich tun muss.
»Sie hat Ihre Augen«, sage ich.
Das kleine Mädchen hat eindeutig nicht ihre Augen, doch keine Mutter widerspricht einem solchen Kompliment.
»Danke.«
Ich schaue auf den Himmel und die Häuser am Fitler Square. Es ist Zeit. »Es hat mich gefreut, mit Ihnen zu plaudern.«
»Mich auch«, erwidert die Frau. »Schönen Tag noch.«
»Danke. Den werde ich haben.«
Ich greife noch einmal in den Baby-Jogger, nehme eine der winzigen Hände des Babys in meine und schüttele sie leicht. »Es war schön, dich kennenzulernen, kleine Ashley.«
Mutter und Tochter kichern.
Es ist alles in Ordnung.
Kurz darauf gehe ich die Dreiundzwanzigste Straße hinauf Richtung Delancey Street. Ich nehme das digitale Aufnahmegerät heraus, stöpsle den kleinen Stecker für die Ohrhörer ein und spiele die Aufnahme ab. Gute Qualität mit wenig Hintergrundgeräuschen. Die Stimme des Babys ist klar und deutlich.
Als ich in den Transporter steige und in den Süden von Philadelphia fahre, denke ich über diesen Morgen nach und freue mich, dass sich alles gut zusammenfügt.
In mir leben Harmonie und Melodie Seite an Seite, gewaltige Stürme an einem sonnenbeschienenen Ufer.
Ich habe den Beginn des Lebens eingefangen.
Jetzt nehme ich das Ende auf.
2.
»Ich heiße Paulette, und ich bin Alkoholikerin.«
»Hallo, Paulette.«
Ihr Blick wanderte über die Gruppe. Heute waren mehr Leute gekommen als in der letzten Woche. Es waren fast doppelt so viele wie beim ersten Mal, als sie das Gruppentreffen in der Methodistenkirche vor fast einem Monat besucht hatte. Vorher war sie bei drei Treffen an drei unterschiedlichen Orten gewesen – im Norden, im Westen und im Süden von Philadelphia. Sie erfuhr jedoch schnell, dass die meisten Menschen, die regelmäßig zu Treffen der Anonymen Alkoholiker gingen, irgendwann eine Gruppe fanden, in der sie sich wohlfühlten und in der sie blieben.
Etwa zwanzig Personen, unter denen sich ebenso Männer wie Frauen, Junge wie Alte, Nervöse wie Ruhige befanden, saßen in einem lockeren Kreis. Die Jüngste war eine Frau um die zwanzig und der älteste Teilnehmer ein Mann in den Siebzigern, der in einem Rollstuhl saß. Schwarze, Weiße, Hispanoamerikaner und Asiaten nahmen an dem Treffen teil. Die Alkoholsucht kann Menschen aller Nationalitäten, jeden Geschlechts und Alters gleichermaßen treffen. Die Größe der Gruppe wies darauf hin, dass Feiertage bevorstanden. Wenn irgendetwas dazu angetan war, Gefühle wie Unzulänglichkeit, Groll und Wut wachzurufen, dann waren es Feiertage.
Der Kaffee schmeckte wie immer scheußlich.
»Einige von euch haben mich bestimmt schon mal hier gesehen«, begann sie und versuchte, einen unbeschwerten Ton anzuschlagen. »Ach, wem will ich denn hier was vormachen? Vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht ist es egoistisch, nicht wahr? Vielleicht denke nur ich, ich sei nichts wert, und sonst denkt das niemand. Vielleicht ist genau das das Problem . Jedenfalls habe ich heute zum ersten Mal den Mut zu sprechen. Hier bin ich also, und ihr könnt euch anhören, was ich zu sagen habe. Zumindest für eine Weile. Ihr habt Glück.«
Als sie ihre Geschichte erzählte, wanderte ihr Blick über die Leute hinweg. Rechts von ihr saß ein junger Mann Mitte zwanzig mit stahlblauen Augen, in einer zerrissenen Jeans und einem bunten Ed-Hardy-T-Shirt, unter dem sich die Muskeln abzeichneten. Sie schaute mehrmals zu ihm hinüber und sah, dass sein Blick über ihren Körper glitt. Er war vielleicht Alkoholiker, mit Sicherheit aber auf ein Abenteuer aus. Neben ihm saß eine Frau um die fünfzig. Geplatzte Äderchen im Gesicht zeugten von jahrzehntelangem starkem Alkoholmissbrauch. Sie ließ das Handy immer wieder über ihre verschwitzte Handfläche rollen und trat mit einem Fuß zu einem längst verhallten Takt auf den Boden. Ein paar Plätze weiter saß eine kleine Blondine in einem grünen Sweatshirt mit dem Aufdruck der Temple University. Sie hatte eine sportliche Figur, und das Gewicht der Welt war nur eine Schneeflocke auf ihren Schultern. Neben ihr saß Nestor, der Gruppenleiter. Nestor hatte das Treffen mit seiner eigenen kurzen, traurigen Geschichte eröffnet und dann gefragt, ob noch jemand sprechen wolle.
Ich heiße Paulette.
Als sie ihre Geschichte beendete, klatschten alle höflich. Anschließend standen andere Teilnehmer auf, sprachen und
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