Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
Meisterwerk sein, an dem alle anderen für immer gemessen werden. Es hat schon begonnen.
Ich schlage den Kragen hoch und setze meinen Weg fort.
Klipp-klapp, klipp-klapp.
Wie ein Skelett bahne ich mir rasselnd den Weg durch die belebten Straßen.
Kurz nach acht bin ich auf dem Fitler Square, auf dem sich wie erwartet viele Menschen aufhalten – Radfahrer, Jogger, die Obdachlosen, die sich aus einer nahe gelegenen Passage hierhergeschleppt haben. Einige dieser Obdachlosen werden den Winter nicht überleben. Bald werde ich ihren letzten Atemzug hören.
Ich stehe in der Nähe der Widderskulptur am östlichen Ende des Platzes, beobachte alles und warte. Nach ein paar Minuten sehe ich sie: Mutter und Tochter.
Sie sind genau das, was ich brauche.
Ich überquere den Platz, setze mich auf eine Bank, packe die Zeitung aus und falte sie zwei Mal. Es ist unbequem mit den Mordinstrumenten im Kreuz. Ich verändere meine Haltung, als der Geräuschpegel steigt: das Flattern und Gurren der Tauben, die sich um einen Mann scharen, der ein Brötchen isst; die Hupe eines Taxis; das laute Dröhnen eines Basslautsprechers. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass nicht mehr viel Zeit bleibt. Bald wird mein Kopf von Schreien erfüllt sein, und dann kann ich nicht mehr das tun, was ich tun muss.
Ich betrachte die junge Mutter und ihr Baby, wechsle einen Blick mit der Mutter und lächle.
»Guten Morgen«, sage ich.
Die Frau lächelt zurück. »Hallo.«
Das Kind liegt in einem teuren Baby-Jogger mit einem wasserdichten Verdeck und einem Einkaufskorb. Ich stehe auf, überquere den Weg und spähe hinein. Es ist ein Mädchen, das in einem rosafarbenen Strampler und mit einer passenden Mütze auf dem Kopf unter einer schneeweißen Decke liegt. Über seinem Kopf baumeln helle Plastiksterne.
»Und wer ist dieses kleine Filmsternchen?«, frage ich.
Die Frau strahlt. »Das ist Ashley.«
»Ashley. Sie ist sehr hübsch.«
»Danke.«
Ich achte darauf, dem Baby nicht zu nahe zu kommen. Noch nicht. »Wie alt ist sie?«
»Vier Monate.«
»Das ist ein fantastisches Alter«, erwidere ich augenzwinkernd. »Ich glaube, das war die beste Zeit meines Lebens.«
Die Frau lacht.
Es hat geklappt.
Ich schaue zum Baby-Jogger. Das Baby lächelt mich an. Ich sehe so vieles in seinem engelhaften Gesicht. Aber es ist nicht der hübsche Anblick, der mich antreibt. Die Welt ist voll von schönen Bildern, atemberaubenden Aussichten, die oft in Vergessenheit geraten, sobald man die nächste idyllische Landschaft sieht. Ich habe vor dem Tadsch Mahal, der Westminster Abbey und dem Grand Canyon gestanden. Einmal habe ich einen ganzen Nachmittag vor Picassos Guernica verbracht. All diese herrlichen Bilder verblassen in relativ kurzer Zeit in den düsteren Winkeln der Erinnerungen. Doch ich erinnere mich ganz deutlich an das erste Mal, als ich jemanden vor Angst habe schreien hören, an das Jaulen eines Hundes, der von einem Auto angefahren wurde, den sterbenden Atem eines jungen Polizisten, der auf einem heißen Bürgersteig verblutete.
»Schläft sie nachts schon durch?«
»Nicht ganz«, erwidert die Frau.
»Meine Tochter schlief schon mit zwei Monaten durch. Wir hatten nie Probleme mit ihr.«
»Sie Glückspilz.«
Ohne die geringste Eile an den Tag zu legen, greife ich in meine rechte Manteltasche, umfasse das, was ich brauche, und ziehe es heraus. Die Mutter steht nur zwei Schritte von mir entfernt auf meiner linken Seite. Sie sieht nicht, was ich in der Hand halte.
Das Baby strampelt unter der Decke mit den Beinen. Ich warte. Ich bin ein sehr geduldiger Mensch. Das Baby muss ruhig sein und darf sich nicht bewegen. Bald beruhigt es sich wieder und starrt mit seinen blauen Augen zum Himmel hoch.
Ich strecke die rechte Hand langsam aus, um die Mutter nicht zu erschrecken. Dann berühre ich behutsam die linke Handfläche des Babys. Die Kleine schließt ihre winzige Faust um meinen Finger und gluckst. Wie ich gehofft habe, beginnt sie darauf, vor Vergnügen zu kreischen.
Alle anderen Geräusche verstummen. In diesem Moment gibt es nur das Baby und diese himmlische Atempause von den Dissonanzen, die mich bei Tage bestürmen.
Ich drücke auf Aufnahme, halte das Mikrofon ein paar Sekunden vor den Mund des kleinen Mädchens, sammle die Töne, sammle einen Augenblick, der sonst im Nu verloren gegangen wäre.
Die Zeit vergeht nur langsam, zieht sich in die Länge wie eine nachklingende Coda.
Ich ziehe meine Hand zurück. Ich möchte nicht zu lange
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