Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
denken.
Das konnte nicht ihr Haus in der Melbourne Road gewesen sein. Das war schier unmöglich. Es musste einfach das Foto irgendeines x-beliebigen Bungalows sein, wie es sie zu Tausenden gab. Sie sahen doch alle gleich aus, oder nicht? Vor allem die hässlichen Häuser.
Aber was ist mit der Fahne, Lucy? Hing auf allen Veranden diese zerfetzte Fahne an einem verrosteten Nagel, dieses alberne Fähnchen, das den Frühling symbolisieren sollte? Diese Fahne, die man alle drei Monate wechseln sollte, was aber niemand tat, nicht ein einziges Mal in all der Zeit, in der sie dort wohnten? Sie hatten sie alle – Frühling, Sommer, Herbst und Winter, alle vier Jahreszeiten, und eine war zerfetzter als die andere –, aber sie tauschten die Frühlingsfahne nie aus.
Was ist damit , Lucy? Was ist mit der Frühlingsfahne?
Auf diese Frage fand sie keine Antwort. Und sie wusste auch nicht, was in den zwanzig Minuten geschehen war, an die sie sich nicht erinnern konnte. Sie musste wohl über den Tag gesprochen haben, an dem sie verschwunden war. Was hatte sie gesagt? Und warum sprach Mr. Costa nicht mit ihr darüber? War sie nicht aus diesem Grund zu ihm gegangen?
Das gehörte alles zur Therapie, vermutete sie. Und zwei Sitzungen lagen noch vor ihr.
Seit Lucy sechs oder sieben Jahre alt war, besaß sie erstaunlich viel handwerkliches Geschick. Autos konnte sie allerdings nicht reparieren, wenngleich sie die einfachen Wartungsarbeiten mittlerweile bei den meisten Wagen durchführen konnte – Öl, Zündkerzen und Keilriemen wechseln, manchmal auch Bremsbeläge erneuern, wenn nicht zu viel ausgebaut werden musste. Nein, ihre Stärke lag darin, kleine Elektrogeräte zu reparieren. Wenn man ihr einen Kassettenrekorder, einen Tischbackofen oder eine Lampe brachte, die nicht mehr funktionierten – und eine Reihe von Mitarbeitern des Le Jardin taten das oft –, war sie nach der Mittagspause mit der Reparatur fertig.
Lucy hatte keine Berufsfachschule und keine Seminare besucht und sich auch nicht in Fernkursen weitergebildet. Sie verfügte über ein angeborenes Geschick, das sie aus der Notwendigkeit ihres ärmlichen Lebens heraus weiterentwickelt hatte.
Während der nächtlichen Beutezüge in ihrer Kindheit, wenn sie mit ihrer Mutter den Müll durchwühlte, fanden sie oft alle möglichen weggeworfenen Dinge – Tischbacköfen, Mixer und Kassettenrekorder. Glücklich über die Beute, schleppte Lucys Mutter die Sachen in ihre Wohnung und vergaß sie dann oft. Wochen später warf sie die Sachen wieder weg, und Lucy rettete sie ein zweites Mal. Sie begann, einfache Geräte zu reparieren und wurde mit der Zeit immer besser darin.
Learning by doing hieß das Prinzip, doch das wusste sie nicht.
Mit zehn Jahren ging Lucy alleine zu Müllhalden und suchte dort Dinge, die sie reparieren konnte. Sie kannte jeden Secondhand-Laden in ihrer kleinen Stadt. Während die meisten Kinder Dick und Jane lasen, brütete Lucy über Reparaturhandbüchern wie Sam’s Photofact .
Außerdem stahl Lucy bei ihren Ausflügen in die Kaufhäuser immer Kleidung in denselben Farben – Pullover, Sweatshirts, Röcke. Manchmal ersetzte sie sogar ein paar Kleidungsstücke ihrer Mutter. Diese fiel ständig hin und zerriss ihre Sachen. Mittlerweile war Lucy eine richtige Expertin geworden. Sie konnte ein nagelneues Kleid stehlen und das Material so bearbeiten, dass ihre Mutter gar nicht merkte, dass sie etwas Neues trug. Ihre Mutter war in vielerlei Hinsicht eine stolze Frau, und es brach Lucy das Herz, wenn sie in zerrissener Kleidung herumlief.
Heute bummelte Lucy durch Macy’s am Rathaus. Sie ging auf die Kinderabteilung zu und suchte einen Pulli in der richtigen Größe. Lucy nahm zwei Pullover aus dem Regal und spazierte eine Weile damit durch das Geschäft. Als sie in die Damenabteilung kam, suchte sie ein Kleid aus und ging damit in die Umkleidekabine.
Dort stellte sie sich mit dem Rücken zu den Spiegeln, nahm ihr kleines Werkzeugset heraus – sie kannte alle Tricks – und entfernte die elektronischen Diebstahlsicherungen von einem Pulli und dem Kleid. Anschließend befestigte sie die Sicherungen an dem zweiten Pullover. Sie steckte den ersten Pullover und das Kleid in ihre Tasche, verließ die Umkleidekabine und legte den anderen Pullover wieder zurück ins Regal. Ehe sie das Geschäft verließ, schlenderte sie noch eine Weile herum, um sicherzugehen, dass sie nicht beobachtet wurde.
Als Lucy ins Le Jardin zurückkehrte, blieben ihr bis zum Beginn
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