Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
schaute auf ihre Hände. Sie hatte sie so fest zu Fäusten geballt, dass ihre Handflächen nun acht kleine rote Halbmonde aufwiesen. Sie öffnete die Hände, trat aus dem Schrank heraus und sah sich um. Einen kurzen Augenblick lang wusste sie nicht, in welchem Zimmer sie war. Die meisten Leute, sogar die, die im Le Jardin arbeiteten, hatten Probleme, die Standardzimmer auseinanderzuhalten. Nur die Aussicht aus den verschiedenen Fenstern lieferte ihnen mitunter Anhaltspunkte. Lucy hingegen kannte jedes Zimmer auf der zwölften Etage. Es war ihre Etage.
Sie strich ihre Arbeitskleidung glatt, betrat das Badezimmer, ging im Geiste die Checkliste durch und überprüfte das Zimmer.
Fertig.
Sie öffnete die Tür und trat auf den Gang. Vom Aufzug näherten sich zwei ältere Männer. Sie gehörten vermutlich zu den Tagungsteilnehmern. In dieser Woche waren alle Gäste auf dieser Etage Tagungsteilnehmer. Sie nickten ihr zu und lächelten. Lucy lächelte zurück, obwohl ihr nicht danach zumute war.
Als Lucy das Businesscenter auf der zwölften Etage erreichte, das in Wahrheit nur ein winziger Raum mit Computer, Faxgerät und Drucker war, spürte sie, dass ein anderer Gast den Gang entlangging. Das ungeschriebene Gesetz lautete, dass die Gäste, ebenso wie die Mitarbeiter der Rezeption und die Pagen auf den Gängen, in den Aufzügen und in fast allen öffentlichen Bereichen Vortritt genossen. Man sollte sich nicht verstecken oder zur Seite treten, aber wenn man seinen Job gut machte, wusste man, wie man den Gästen elegant auswich.
Lucy trat in eine Nische, als der Mann an der Tür des Businesscenters vorbeiging. Richtig erkennen konnte sie ihn nicht, aber sie sah seinen dunklen Mantel.
Sie brauchte ihn auch gar nicht zu sehen. Es war nämlich nicht sein Anblick, der ihr den Boden unter den Füßen wegriss, sondern ihr Geruchssinn.
Der Geruch des Hotels nach Reinigungsmitteln und gefilterter, geheizter Luft wurde von einem anderen Duft überlagert, der wie eine kalte Hand an ihr Herz griff. Dieser Duft hatte ohne Zweifel dem Mann angehaftet, der gerade auf dem Gang an ihr vorbeigegangen war.
Der Duft von Äpfeln.
Lucy schaute den Gang hinunter und wusste, dass der Mann eines der Zimmer verlassen hatte. War es die 1208? Es musste so sein. Die beiden anderen Zimmer am Ende des Ganges, die beide nicht belegt waren, hatte sie gerade gereinigt.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch schob Lucy den Putzwagen den Gang hinunter und fuhr mit dem Personalaufzug ins Kellergeschoss. Dort ließ sie den Putzwagen stehen und lief die Stufen zum Personaleingang im Erdgeschoss hoch. Sie versuchte sich zu beruhigen, als sie auf die Eingangshalle zuschritt. Lucy wusste nicht, was sie tun würde, wenn sie dem Mann gegenüberstand, ja sie wusste nicht einmal, wen sie suchte.
Schließlich betrat sie von der Nordseite die Hotellobby. Dort standen drei Männer. Keiner von ihnen trug einen dunklen Mantel oder hatte einen über dem Arm hängen. Die anderen Personen gehörten alle zum Personal.
Lucy trat durch die Seitentür auf die Sansom Street. Auf dem Bürgersteig wimmelte es von Menschen. Männer, Frauen, Kinder, Auslieferungsfahrer, Taxifahrer. Sie bog um die Ecke und schaute vor dem Hotel nach. Zwei Pagen holten das Gepäck eines älteren Ehepaars aus einer Limousine.
Lucys Herzschlag beruhigte sich wieder. Sie wartete einen Augenblick und ging dann die Einfahrt auf der Ostseite des Hotels entlang.
Der Duft von Äpfeln.
Sie musste es sich eingebildet haben. Sie war selbst schuld. Warum musste sie auch diesen verrückten Typen aufsuchen? Sie würde nie herausfinden, was in diesen drei Tagen geschehen war. Nicht die ganze Wahrheit.
Lucy lief zur Rückseite des Hotels und bog um die Ecke.
»Hallo, Lucy.«
Sie blieb stehen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie bekam weiche Knie. Lucy kannte den Mann, der vor ihr stand. Sie kannte sein Gesicht .
»Sie sind es«, sagte sie.
»Ja, Lucy«, erwiderte er. »Ich bin es. Detective Byrne.«
23.
Jessica verbrachte den frühen Nachmittag damit, Daten in ViCAP , dem Violent Criminal Apprehension Program, zu überprüfen. Diese nationale Straftäterdatei war 1985 vom FBI für die zentrale Erfassung von Gewaltverbrechen – Mord, Vergewaltigung, vermisste Personen und nicht identifizierbare sterbliche Überreste – eingeführt worden. Die in ViCAP gespeicherten Informationen zu den einzelnen Fällen standen autorisierten Polizeibehörden in der ganzen Welt zur Verfügung. Das System bot den
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