Echo des Blutes: Thriller (German Edition)
ursprünglichen Liste stehen einundsiebzig Namen.«
»Einundsiebzig?«
»Ja. Die Obdachlosen sind ein geselliges Völkchen«, sagte Nicci. »Aber es sieht so aus, als hätten wir uns neben Preston Braswell noch für vier weitere Männer intensiver interessiert. Sie wurden alle verhört und wieder freigelassen. Ich glaube, wir sollten zuerst versuchen, sie aufzuspüren.«
Bevor unser Täter es tut, dachte Jessica.
Ein paar Minuten später erhielten sie das Fax mit den vier Namen. Jessica fand sie alle im System. Sie druckte die Informationen, die sie über die Männer hatten, und die neusten Fotos von ihnen aus.
Da keine Informationen darüber vorlagen, wo Marcellus Palmer begraben worden war, mussten sie auf der Straße anfangen.
Seit Jahren trafen sich viele Obdachlose – und das entbehrte nicht einer gewissen Ironie – in dem Park genau gegenüber vom Polizeipräsidium, dem Franklin Square. Normalerweise strömten die Obdachlosen dort zusammen, wo sie etwas zu essen bekamen. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte sich nicht viel verändert.
Die Detectives teilten die Namen und Fotos der vier Männer sowie deren Lieblingstreffpunkte unter sich auf. Sie würden die Befragung jeweils alleine durchführen. Es fehlte die Zeit, und es waren zu viele Orte, um in Teams zu arbeiten.
Jessica übernahm Old City.
36.
An der Stelle, wo die I-95 unter der Benjamin Franklin Bridge entlanglief, befand sich seit langer Zeit ein Unterschlupf der Obdachlosen. Die Polizei sprach seit Jahren nur noch vom »Obdachlosen-Wohnpark«. Jessica parkte den Wagen, suchte ein Schlupfloch im Maschendrahtzaun und steuerte auf den Platz unter der Brücke zu. Ein paar Dutzend Menschen hatten sich dort eingefunden. Am Zaun türmten sich vollgestopfte Pappkartons und prall gefüllte Plastiktüten. In der Nähe stand ein Kindersportwagen mit drei Rädern. Tassen, Flaschen, Milchkartons, Fastfood-Abfälle. Natürlich keine Aludosen. Dosen waren Bargeld.
An der Nordseite des Camps hielten sich zehn oder zwölf Leute auf, größtenteils Männer. Als Jessica näher kam, hoben sie die Köpfe, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen, obwohl sie als Polizistin oder zumindest als Vertreterin des Systems zu erkennen war. Das hatte zwei Gründe. Erstens war Jessica eine Frau, und zweitens stürmte sie nicht mit gezogener Waffe in ihr Quartier, um sie von da zu vertreiben.
Es waren drei verschiedene Gruppen, und ein paar Männer hatten sich etwas abseits ein separates Plätzchen gesucht. Jessica näherte sich der ersten Gruppe und zeigte den Leuten die Fotos. Niemand gab zu, jemanden zu kennen. Bei der zweiten und dritten Gruppe verhielt es sich ebenso.
Als Jessica von der dritten Gruppe wegging, rief ein Mann ihr etwas hinterher. Jessica drehte sich um. Es war einer der älteren Männer. Er lag auf einer dicken Schicht Pappkartons.
»Sag mal, Schätzchen, warst du schon mal mit einem Obdachlosen zusammen?« Er grinste, wobei er seine zahlreichen Zahnlücken entblößte, und begann stark zu husten. Die beiden anderen Männer der Gruppe kicherten. »Das würde mit Sicherheit dein ganzes Leben verändern. Interesse?«
»Klar«, erwiderte Jessica. »Du brauchst nur zu duschen und dir einen Job zu suchen.«
Der Mann schaute sie schockiert an. Er kroch wieder unter seine Decke und drehte sich zur Seite. »You ain’t all that.«
Jessica lächelte, drehte noch eine Runde durch das Camp, stellte überall dieselben Fragen, ohne etwas zu erfahren. Der Letzte deutete auf einen Mann auf der anderen Seite des Geländes. Jessica hatte den gar nicht bemerkt. Als sie auf ihn zuging, sah sie, dass der Mann seinen Platz mit Müllsäcken abgegrenzt hatte und seine Beine mit einer offenbar neuen Wolldecke zugedeckt waren. Als Jessica vor ihm stand, fiel ihr Blick auf das Preisschild, das noch an der Decke hing.
Der Mann lehnte mit dem Oberkörper am Zaun und las in einem Taschenbuch. Das Cover fehlte, aber Jessica konnte den Titel auf dem Buchrücken lesen. Große Erwartungen.
»Verzeihung, Sir?«
Er hob den Blick. Es war ein Schwarzer zwischen fünfzig und siebzig. Er trug eine zerschlissene Cordjacke und ein vergilbtes Hemd. Seine Krawatte sah ebenfalls neu aus. Jessica fragte sich, ob an der Krawatte auch noch das Preisschild hing. Er hatte strahlende intelligente Augen.
»Madam.«
»Darf ich fragen, wie Sie heißen?«
»Abraham Coltrane.«
Vielleicht stimmte der Vorname, aber bei dem Nachnamen war Jessica sich nicht so sicher. »Darf ich Ihnen ein paar
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