Echo Einer Winternacht
Eisenbahnbrücke. Es war so nah am Meer, dass der Schnee sich in der salzigen Luft nicht lange hielt.
Im Schneematsch ging es sich unsicher, und Alex verlor vom Wagen bis zur Haustür zweimal fast das Gleichgewicht.
Nachdem er seine Schuhe abgetreten und dem miesen Wetter die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, rief er als Erstes Lynn auf ihrem Handy an und hinterließ die Nachricht, sie solle auf dem Heimweg vorsichtig fahren. In der Diele warf er einen Blick auf die Standuhr und schaltete im Vorbeigehen das Licht an. Es kam nicht oft vor, dass er an einem Wochentag im Winter bei Tageslicht nach Hause kam, aber heute war es so bewölkt, dass er das Gefühl hatte, es sei später, als es wirklich war. Es würde mindestens noch eine Stunde dauern, bis Lynn kam. Er brauchte Gesellschaft, würde sich aber bis dahin mit dem Trost aus der Flasche begnügen müssen. Im Esszimmer goss sich Alex einen Brandy ein. Keinen großen, ermahnte er sich selbst. Sich zu betrinken würde alles nur noch schlimmer, nicht besser machen. Er nahm sein Glas, ging in den großen Wintergarten, von dem man einen Rundblick auf den Firth of Forth hatte, und saß in der grauen Düsternis, ohne auf die Positionslampen der Schiffe zu achten, die auf dem Wasser funkelten. Er wusste nicht, wie er mit der Nachricht dieses Nachmittags umgehen sollte. Niemand schafft es, sechsundvierzig zu werden, ohne einen Verlust zu erleiden. Aber Alex hatte mehr Glück gehabt als die meisten anderen. Gut, er hatte zwischen zwanzig und dreißig die Beerdigung aller vier Großeltern miterlebt. Aber das erwartete man von Leuten, die auf die achtzig oder neunzig zugingen, und auf die eine oder andere Weise waren alle vier Todesfälle das gewesen, was die Lebenden eine »willkommene Erlösung« nannten. Seine beiden Eltern und die Schwiegereltern lebten noch, und bis heute hatte das auch für alle seine guten Freunde gegolten. Am meisten hatte ihn die direkte Bekanntschaft mit dem Tod betroffen gemacht, als zwei Jahre zuvor sein leitender Drucker bei einem Unfall umgekommen war. Alex war zwar traurig gewesen, dass er den Mann verlor, den er gemocht und auf den er sich im Berufsleben hatte verlassen können, aber er wollte keine Trauer vorspielen, die er nicht empfand.
Bei dieser Sache war es anders. Ziggy war seit über dreißig Jahren Teil seines Lebens gewesen. Sie hatten jede Entwicklungsphase zusammen durchlebt und konnten sich in ihrer Erinnerung daran jeweils aufeinander berufen. Ohne Ziggy fühlte er sich wie von seiner eigenen Geschichte abgeschnitten.
Alex dachte an ihr letztes Treffen zurück. Er und Lynn hatten im Spätsommer zwei Wochen in Kalifornien verbracht. Ziggy und Paul waren mit ihnen zusammen drei Tage im Yosemite Park gewandert. Vor dem strahlend blauen Himmel hoben sich im Sonnenlicht die erstaunlichen Bergformationen als klare Silhouette wie die mit Säure auf einer Kupferplatte eingeritzten deutlichen Details einer Radierung ab. An ihrem letzten gemeinsamen Abend waren sie über Land an die Küste gefahren und hatten in einem Hotel auf einer Klippe übernachtet, von dem man auf den Pazifik hinaussah. Nach dem Abendessen zogen sich Alex und Ziggy mit einem Sechserpack von einer kleinen Brauerei am Ort in den Whirlpool zurück und beglückwünschten sich, wie gut sie ihr Leben eingerichtet hatten. Sie sprachen über Lynns Schwangerschaft, und Alex freute sich, dass Ziggy offensichtlich so davon begeistert war.
»Darf ich Pate sein?«, hatte er gefragt und mit seiner bernsteinfarbenen Bierflasche mit Alex angestoßen.
»Ich glaube, wir werden keine Taufe feiern«, sagte Alex.
»Aber wenn die Eltern uns dazu drängen, wüsste ich niemanden, den ich lieber wollte.«
»Du wirst es nicht bereuen«, sagte Ziggy. Und Alex wusste, dass er es nie bereut hätte. Keine Sekunde. Aber das war etwas, was jetzt nie Wirklichkeit werden würde.
Am folgenden Morgen hatten Ziggy und Paul früh die lange Fahrt zurück nach Seattle angetreten. Im perlgrauen Licht der Morgendämmerung hatten sie auf der Veranda ihrer Hütte gestanden und sich zum Abschied umarmt. Auch das war etwas, was nie wieder geschehen würde.
Was hatte Ziggy zuletzt aus dem Fenster des Geländewagens gerufen, als sie den Pfad hinunterfuhren? Etwas darüber, dass Alex Lynn alle Wünsche erfüllen solle, um sich so schon mal an seine Vaterrolle zu gewöhnen. An die genauen Worte konnte er sich ebenso wenig wie an die Antwort erinnern, die er ihnen nachgerufen hatte.
Aber es war typisch
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