Echo: Roman (German Edition)
Temperaturen unter null und einen Wind mögen, der mit fünfzig Kilometern in der Stunde von Norden über die Prärie pfeift, dann ist Carnaiva die richtige Stadt für Sie. Die Einheimischen waren geradezu stolz auf die Kälte. Ich hatte Geschichten gehört, denen zufolge manchmal Leute in den Sturm hinauswanderten und erst im Frühjahr wieder zurückkämen.
Die Stadt war vermögend. Die Häuser waren klein, aber extravagant, verfügten über umlaufende, beheizte Veranden und warteten mit den verschiedensten, exotischen Dachformen auf. Sie standen dichter, als man es üblicherweise in einer begüterten Gemeinde zu sehen bekam. Ich nahm an, das hatte etwas mit der Lage des Ortes zu tun. Denn wenn man die Stadtgrenze und die Baumreihen hinter sich ließ, ging die Welt endlos weiter und war in jeder Richtung einfach nur leer und öde. Folglich hatte hier, am einzigen Siedlungsplatz in dieser Einöde, wohl der Herdeninstinkt die Oberhand gewonnen.
Die Bevölkerung war mit knapp über achttausend Personen angegeben. Das einzig nennenswerte Unternehmen im Ort war eine Fabrik, die Motorschlitten herstellte. Außerdem war Carnaiva der Veranstaltungsort des jährlichen Carnaiviac, eines Rennens, bei dem sich Kinder aller Altersgruppen in einer ganzen Reihe von wahnsinnig beliebten Wettbewerben mit ihren Schlitten maßen.
Es gab eine Kirche, zwei Schulen, eine Synagoge, ein bescheidenes Vergnügungszentrum, ein paar Läden und Restaurants (beispielsweise namens Irrenhaus und Außenposten) und zwei Nachtclubs. Niemand konnte sich erinnern, wann sich hier zuletzt ein Kapitalverbrechen ereignet hatte, und Carnaiva war die einzige Stadt auf dem Kontinent, die stets die Höchstpunktzahl bei der jährlichen Arbuckle-Auswahl des ›sichersten Ortes, um groß zu werden‹ ergatterte. Soweit ich es nach einem ersten Blick vom Bahnhof aus beurteilen konnte, war dieser Ort auch der stillste auf dem Kontinent.
Alles war zu Fuß erreichbar. Ich hatte eine Reisetasche mitgenommen, die ich in einem Schließfach verstaute. Dann ging ich zum Mittagessen ins Außenposten.
Ich war mir nicht sicher, ob ich das Irrenhaus ausprobieren wollte.
Die Raum-Station nahm mehrere Hektar Wald am Ufer des Korbysees ein. Der See lag zwei Kilometer südlich der Stadt und war, so behaupteten die Einwohner, bis auf ein paar Wochen mitten im Sommer ständig zugefroren. Ich nahm ein Taxi und kam an einem Schild mit dem Namen der Einrichtung vorbei. Auf dem Schild war die Silhouette eines interstellaren Schiffs nebst der Losung GRENZENLOSES LAND zu sehen. Die Tatsache, dass der größte Teil des Seeufers von Anlegern und Bootshäusern eingenommen wurde, legte den Verdacht nahe, dass die Einheimischen zur Übertreibung neigten. Aber als ich dort war, war der See zugefroren, und die Boote waren offenbar für den Winter in ihren Bootshäusern verstaut.
Dicht zusammengeballt lagen am Ufer ein zweistöckiges Gebäude, das als Schule, Kapelle und Begegnungsstätte diente, ein Schwimmbad und eine Turnhalle, die beide mit Plastene-Kuppeln überzogen waren; außerdem sah ich ein paar Schaukeln für die kälteunempfindlicheren Kinder. Hütten, die als Wohnquartiere für Kinder und Mitarbeiter dienten, lagen über das ganze Areal verstreut.
Das Taxi landete auf einer Wiese. »Mr Cavallero ist üblicherweise dort drüben anzutreffen« , erklärte mir die KI und verwies mich auf eine der Hütten. Vor der Hütte hing ein Schild mit der Aufschrift DIREKTION. Etwas abseits entdeckte ich weitere Schaukeln. Zwei Mädchen von ungefähr zwölf Jahren kamen soeben aus der Hütte. Sie stemmten sich gegen den Wind und bemühten sich, die Bänder und Poster zu schützen, die sie im Arm hielten.
Ich zahlte, stieg aus und sagte den Mädchen hallo. »Sieht aus, als wolltet ihr eine Party feiern«, fügte ich hinzu.
Eines der Mädchen, das in der roten Jacke, lächelte. Das andere lachte. »Siegesfeier«, erklärte es.
»Eine Sportveranstaltung?«, hakte ich nach.
»Geländelauf.«
Wir unterhielten uns ein, zwei Minuten. Das Ereignis hatte noch gar nicht stattgefunden. Achtzehn Kinder sollten sich untereinander messen. Nur eines konnte gewinnen, aber feiern würde die ganze Gruppe. »Wir haben viele Siegesfeiern.«
Ich ging zur Eingangstür der Hütte. »Guten Morgen« , sagte die KI. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich. Mein Name ist Chase Kolpath. Ich arbeite an einem Forschungsprojekt und würde gern mit Mr Cavallero sprechen.«
»Einen Moment bitte, Ms
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