Echt? In der DDR gab's mehrere Parteien? - Ein Ossi und ein Wessi beginnen einen Dialog (German Edition)
ständig mit Holz und Kohlen fütterten. Dennoch gingen die letzten Jugendlichen oft ins kalte Wasser baden. Gewechselt wurde das Badewasser nach jedem Dritten oder Vierten. Diese Bedingungen waren für Behinderte und Mitarbeiter unmenschlich.
Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann sich diese Arbeitssituation vorstellen. Vom Grad der Behinderung waren die Jugendlichen sehr unterschiedlich. Manchen konnte man morgens auf einen Stuhl setzen, der rührte sich dann den ganzen Tag nicht mehr. Andere griffen uns sogenannte Erzieher an und wir wehrten uns mit Ohrfeigen und weiterer Gewaltanwendung.
Mitarbeiternot hatten wir immer. Oft kam es vor, dass ich tagelang allein für diese Gruppe verantwortlich war. Ich holte sie morgens um 6 Uhr aus den Betten, musste eingekotete Bettwäsche ausspülen und dafür sorgen, dass sie abends wieder trocken aufgezogen werden konnte. Dann wurden alle im Schnellverfahren mit gespendeten elektrischen Westrasierern rasiert und manchmal schaffte ich es auch noch, einigen etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, damit sie aufwachten.
Dann ging es in den großen Saal an den bereits gedeckten Frühstückstisch. Der Hausvater, ein Züssower Diakon, hielt eine Andacht, von der 98 Prozent der Anwesenden kein Wort verstand. Nach dem Frühstück ging ich manchmal mit allen allein spazieren, was verboten war, aber sonst hätten sie tagelang keine frische Luft bekommen. Zwei weitere Kollegen arbeiteten so wie ich. Bedenkt man allerdings, dass die Urlaubszeit und freie Wochenenden dazukommen, kann der Leser vielleicht ein wenig einschätzen, wie oft man völlig allein auf Station war.
Daniel: Klingt gruselig. Die Menschen mit geistiger Behinderung, die in meiner Straße in der Behinderten-Werkstatt lebten und arbeiteten, gingen oft ohne Betreuung spazieren. Manche waren Originale, die im ganzen Viertel bekannt waren.
Christian: Ja, vor allem die hygienischen Zustände waren mittelalterlich. Kurz bevor ich anfing, in dieser diakonischen Einrichtung zu arbeiten, hatten sich Mitarbeiter darüber an hoher Stelle bei der Diakonie mehrfach beschwert. Als Ergebnis wurden Sie vom Hausvater abgemahnt. Aber die Mitarbeiter hielten nicht still. Sie schrieben einen Brief an den Gesundheitsminister der DDR, Prof. Dr. Mecklinger. Der allerdings schickte diesen Brief auch wieder zurück an den Hausvater. Innerhalb kurzer Zeit kündigten die Mitarbeiter, die sich beschwert hatten. Die Offiziellen der DDR hatten immer ein Problem mit Menschen, die behindert waren. Also schloss man lieber die hochoffiziellen Augen und ließ die Diakonie machen.
Unterstützt wurden wir des Öfteren von den sogenannten Ausreisekandidaten, von denen ich dir bereits erzählt habe, und deren Zahl in den 80er Jahren dramatisch anwuchs.
Daniel: Wie haben sich denn die Ausreisekandidaten bei euch angestellt, die gar nicht freiwillig zu euch zum Arbeiten kamen?
Christian: So unterschiedlich die Motive für eine Ausreise waren, so unterschiedlich war auch die Hilfe, die wir von solchen Ausreisekandidaten im Arbeitsalltag bekamen. Manche verkrafteten einfach nicht, was sie zu sehen bekamen, andere wiederum waren eine sehr wertvolle Hilfe.
22. Bevölkerungsintensivhaltung
Christian: Während meiner Zeit in der Reuterstadt Stavenhagen, es war Mitte der 80er Jahre, konnte jeder, der das wollte, feststellen, dass etwas in der Luft lag. Niemand wusste, was das war und niemand ahnte etwas von der bevorstehenden Wende des November 1989.
Die DDR-Bürger, die sich im real existierenden System eingezwängt und bevormundet fühlten, wagten plötzlich mehr. Unterstützt wurde dies natürlich von den politischen Vorgängen in der befreundeten Sowjetunion. Gorbatschow war gerade dabei, Glasnost zu praktizieren.
Daniel: Kannst du noch näher erinnern, was Glasnost war? Ich habe natürlich den Zerfall der Sowjetunion miterlebt und ich habe diesen Begriff auch schon oft gehört, aber irgendwie muss ich damals so jung gewesen sein, dass ich während der Tagesschau nicht richtig aufgepasst habe.
Christian: So aus dem Stand kann ich dir das Wort auch nicht übersetzen. Ich habe nachgeschaut und es wurde mit „Redefreiheit" übersetzt. Aber dieses Wort allein fasst nicht die Stimmung insgesamt, die sich plötzlich von Osten her unaufhaltsam überall bei uns ausbreitete. Die Menschen, die sich vorher nie trauten, etwas gegen Erich, die politische Lage oder die katastrophale Lage in unseren Geschäften zu sagen, die trauten
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