Echt? In der DDR gab's mehrere Parteien? - Ein Ossi und ein Wessi beginnen einen Dialog (German Edition)
Clara-Dieckhoff-Haus habe ich selbst miterlebt, wie der Hausvater morgens um 8 Uhr einen Anruf erhielt, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sein Mitarbeiter M.M. um 11.26 Uhr im Interzonenzug nach Hamburg zu sitzen hat. Jahrelang hat dieser Mann auf seine Ausreise gewartet und dann plötzlich ging alles völlig überstürzt.
Nach einem etwa zweistündigen Gespräch empfahl mir Pastor Kayatz: „Gut, Herr Döring: Dann fahren sie erst mal nach Güstrow ins Clara-Dieckhoff-Haus und probieren sie aus, ob Ihnen die Arbeit liegt. Übrigens, sie müssen ein wenig aufpassen, der Hausvater ist dort ein wenig sonderbar."
Mit äußerst gemischten Gefühlen verließ ich Schwerin und fuhr nach Hause. Während meiner gesamten Schulzeit hatte ich nie etwas von Menschen mit Behinderungen gehört. Rollstuhlfahrer kannte ich nur durch die Rüstzeiten. Auf den Straßen waren Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung nur sehr selten zu sehen.
Daniel: Stimmt, das hat mir neulich ein körperlich Behinderter erzählt, der in seiner Kindheit einige Jahre bei Verwandten in der DDR aufgewachsen ist. Er hat in all den Jahren dort keinen anderen Menschen mit einer Behinderung gesehen. Als ich Kind war, habe ich jeden Tag Menschen mit Behinderungen gesehen. Die Behinderten-Werkstatt war nämlich nur ein paar Häuser weiter in unserer Straße. Kann es sein, dass in dem sozialistischen Staat tatsächlich große Probleme mit der Integration von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft herrschten, in der doch eigentlich alle gleich sein sollten?
Christian: Zum Thema Integration fällt mir ein sehr trauriges Beispiel ein. Jahre später habe ich im Katharinenstift der Fritz-Reuter-Stadt Stavenhagen gearbeitet. Dieses einfache Reihenhaus in der Ivenacker Straße liegt direkt im Stadtzentrum. In den 60er Jahren haben die Verantwortlichen im Rathaus ernsthaft darauf gedrungen, dass die geistig behinderten Männer in ein Haus am Stadtrand ziehen müssen. Sie gehören nicht ins Stadtbild, meinte man damals. Heute lebt ein Teil dieser Männer noch immer in der Ivenacker Straße und darf sich sogar frei in der Stadt bewegen.
Mit einem ziemlich flauen Gefühl in der Bauchgegend fuhr ich damals in die Grüne Straße nach Güstrow. Ich klingelte an der Haustür und die freundliche Sekretärin, Frau Schaede, öffnete. Sie ließ mich herein und dann im Treppenhaus stehen. Danach kam ein Mann mit einer sehr schief sitzenden Brille auf der Nase und fragte mich nicht gerade freundlich: „Wat wolln Sie denn hier?"
Nachdem ich ihm erklärte, wer ich bin und von meinem ersten Arbeitstag, den ich heute hier antreten wollte, erzählte, blickte er hoch ins Treppenhaus und brüllte: „Karin, kommst du mal?" Sogleich kam eine freundlich dreinschauende Krankenschwester. Der sonderbare Mann erklärte weiter: „Dat is Herr Döng, der will sein Glück versuchen." Gemeinsam mit der Schwester betrat ich die untere Station des Hauses. Was ich dort zu sehen bekam, das nahm mir beinahe die Luft zum Atmen. Auf engstem Raum, in zum Teil zu kleinen Betten lagen da 20 geistig schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche. Viele waren auch körperbehindert und meine Frage, die ich nicht wagte auszusprechen, hieß: „Oh Gott, warum lässt du so etwas zu?"
Die freundliche Frau stellte sich auf Station als leitende Schwester der Einrichtung, Karin Sturz, vor und erklärte mir auch, dass der Mann im Treppenhaus ihr Mann war. Jetzt war mir klar, warum ich in Schwerin vor diesem Heimleiter, Eckhardt Sturz, gewarnt wurde.
Aber mein erster Arbeitstag sollte erst noch richtig beginnen. Alle 20 dieser sogenannten Lieger wurden täglich sechsmal gewindelt und viermal gefüttert. Gewindelt wurde mit Baumwollwindeln, andere gab es nicht. Manchmal wurden auch diese knapp. Vor allem dann, wenn die uralte Waschanlage im Keller mal wieder kaputt war und der Hausvater sie nicht so schnell reparieren konnte.
Gebadet wurde oft nur alle drei Tage. Dies war eine körperlich schwere Arbeit, die ohne technische Hilfsmittel durchgeführt werden musste. Zwei Schwestern hatten auf dieser Station zeitgleich Dienst. Zum Glück kam ich gerade zu einem Zeitpunkt, als gefüttert wurde. Frau Sturz wurde weggerufen und so stand ich vor den zwei diensthabenden Schwestern etwas hilflos dreinblickend herum. Mitleidig sahen sie mich an. Die ältere fragte: „Ausreisekandidat?"
Nachdem ich ihre Frage verneinte, ermutigte sie mich erst mal: „Am besten du schaust dir erst mal in aller Ruhe
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