Ed King
das erst nach der Jahrtausendwende an die Börse gegangen war, und Ed war sein alleiniger Herrscher und Gebieter. Er hatte seine Finger stets am Puls des Unternehmens und drückte jeder neuen Initiative und Entwicklung in der Öffentlichkeit seinen Stempel auf. Das Erscheinen neuer Produkte war ein riesiger Hype. Sie wurden sorgfältig konstruiert, mit Hingabe produziert und als krönender Abschluss gigantischer Werbekampagnen auf den Markt gebracht, deren einziges Ziel es war, am Tag der Veröffentlichung eine Massenhysterie auszulösen. Ed, als Hauptwerbestratege, war ein Blender und Zauberer, ein Lockvogel, eine Ikone und ein genialer Superstar, so allgegenwärtig, verfügbar, berühmt und profiliert, dass Pythia und Ed in der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit ein und dasselbe waren. Was dem einen widerfuhr, widerfuhr auch dem anderen. Pythia war um einen charismatischen Führer herum aufgebaut, dessen Image pausenlos von einem ganzen Team von PR-Beratern gepflegt wurde. Diese kauten ängstlich auf den Nägeln, denn sie wussten, dass ein einziger Ausrutscher, ein unbedachtes Wort von Ed oder irgendein unappetitliches biographisches Detail die Pythia-Aktien in den Keller reißen könnten. Das schlimmste denkbare Szenario war eine persönliche Katastrophe, die vielleicht sogar Pythias Ende bedeuten würde. Ed könnte ins Gefängnis gehen, wie Martha Stewart oder Bernard Madoff, oder auch einfach verrückt werden wie Howard Hughes.
Es half auch nichts, dass Ed 2013, als er fünfzig wurde, sich aus dem operativen Geschäft zurückzog und den Vorstandsvorsitz an den Präsidenten Buddy Singh übergab. Es half nichts, weil Ed nicht von der Bühne abtrat. Er kümmerte sich fortan nur nicht mehr um jedes Detail, damit er mehr Zeit für Medienauftritte hatte, fällte weiterhin autokratisch seine Entscheidungen und widmete sich verstärkt Dingen, die zuvor zu kurz gekommen waren, zuallererst seiner körperlichen Fitness. Seine Sichelfüße hatten mit den Jahren seine Knie ruiniert, sodass er sich von einem der besten Chirurgen auf diesem Gebiet künstliche Gelenke hatte einsetzen lassen. Dann hatte er eine Laseroperation am Auge, die seine Sehschärfe auf einen Wert von 6/4,5 verbesserte. Ed fühlte sich dadurch so sehr gestärkt und ermuntert, dass er mehr wollte. Er heuerte einen privaten »Berater für ein langes Leben« an, der Maßnahmen zur Verlangsamung des Alterungsprozesses vorschlug und sie auch durchführte. Diane sprang ebenfalls auf den Zug auf, und beide begannen nicht nur menschliche Wachstumshormone und ein DHEA genanntes Steroidhormon zu nehmen, sondern erhielten auch noch Infusionen mit aus Eigelb gewonnenem Phosphatidylcholin. Diane ließ sich Östrogen-Ersatz und Ed Testosteron verabreichen. Diane hatte ein weiteres Facelifting; Ed ließ sich das Kinn straffen.
Dank der gewonnenen Zeit wurde Ed neben dem König der Suchmaschinen auch noch der König der Firmenübernahmen. Er wurde geradezu süchtig danach, Firmen aufzukaufen, zuerst mittels Verhandlungen und einer angebotenen Fusion, dann durch eine vom Management empfohlene freundliche Übernahme und zuletzt mit allen Mitteln, die zum Erfolg führten. Er hatte ein Händchen für blitzschnelle Due-Diligence-Prüfungen, liebte das Ringen um Aktionärsstimmen und zeigte sich unterlegenen Firmenchefs gegenüber hinreichend großzügig, um zukünftige Opfer zum Einknicken zu bewegen. Bei der täglichen Zusammenkunft mit seinen Generälen steckte er die nächsten Ziele ab und ließ sich über die neuesten Schlachten informieren. Die Treffen fanden in einer Kommandozentrale statt. Berichtete ein General von Widerständen, warf Ed genügend Geld hinterher, um sie aus dem Weg zu räumen. Es war wie ein Schneeball, der einen steilen Abhang hinunterrast und dabei immer größer wird, bis zu dem Punkt, an dem er als Lawine über einem ganzen Wirtschaftssektor niedergeht.
Bei einer dieser Zusammenkünfte im Juni 2014 schlug ein General vor, Pythia solle GameKing übernehmen, Simons Firma, nachdem er ausführlich dargelegt hatte, wie das Unternehmen in jüngster Zeit durch PlayStation, Xbox und Nintendo unter Druck geraten war. »Okay«, sagte Ed, »aber fädeln Sie die Sache diskret ein.« Binnen weniger Monate besaß er die Aktienmehrheit an der Firma, woraufhin sein Bruder nicht mehr mit ihm redete und nach Santa Barbara ging, um sich einen Bart wachsen zu lassen und an der Uni zu lehren. Auch gut, dachte Ed, weil Si der Killerinstinkt fehlte. Wenn er Simons
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