Ed King
Fakten vor Augen, die Genomanalyse und die gefälschte Unterschrift auf seiner Geburtsurkunde. »Es kann nicht sein, aber es ist wahr«, dachte er. »Es passt nicht zusammen, irgendetwas ist daran faul.« Konnte die Genomanalyse fehlerhaft sein? Oder war irgendwo anders ein Fehler unterlaufen? Ein Irrtum bei der Genomanalyse war nahezu ausgeschlossen; gerade das war ein Hauptgrund für das Großartige des Projekts. Dennoch konnte Ed die nüchterne Wahrheit nicht akzeptieren: Er war adoptiert, aber das konnte nicht sein, es war unmöglich, aber es war so.Er war adoptiert! Und zwar heimlich adoptiert! Er war ganz gewiss nicht der erste Mensch, der heimlich adoptiert worden war, genauso wenig wie der erste, der später davon erfuhr, oder der erste, den die niederschmetternde Erkenntnis traf, nicht der zu sein, der er glaubte zu sein. Aber war das ein Trost? Nein. Man brauchte nur »geheime Adoption« im Suchfeld einzugeben, um aus den zahllosen angezeigten Seiten – zu den Themen Selbsthilfe, Beratung, Rechtshilfe, gegenseitiger Trost und natürlich kostenpflichtigen Dienstleistungen – unmittelbar zu ersehen, wie verbreitet dieser unselige Sachverhalt war. Man konnte über BirthLink eine Suche starten, sich einer Group anschließen, einen Anwalt finden, Bücher zum Thema erwerben, die Dienste von AlphaTrace nutzen oder Kontakt zu einem Psychologen in der näheren Umgebung aufnehmen, der auf solche Fälle spezialisiert war. Und man konnte sicher sein, nacheinander verblüfft, verwirrt, wütend und traurig zu sein, in genau der Reihenfolge, und … Ed gab das Surfen auf. Stattdessen ging er auf einen überdachten Balkon hinaus und versuchte sich zu beruhigen, indem er durch ein Teleskop, das teurer war als die meisten Autos, vom Hochwasser eingeschlossene Wapiti-Hirsche beobachtete. Es funktionierte. Ihre imposante, unergründliche, majestätische Gleichgültigkeit und ihre Verachtung für den unheimlichen Regen wirkten wie ein Gegenmittel auf seine innere Unruhe. Dinge, die ihm schon lange an seiner »Familie« aufgefallen waren, ergaben mit einem Mal einen Sinn. Beispielsweise, dass er kaum Ähnlichkeit mit Dan, Alice oder Simon hatte. Auf Familienfotos stach seine goldbraune Haut stets gegen den olivfarbenen Teint der anderen drei ab. Und es gab noch andere Merkmale: Sie hatten freie Ohrläppchen, seine waren angewachsen; sie hatten braune Augen, er grüne; ihre Haut war behaart (selbst die von Alice, trotz alles Zupfens und Wachsens, trotz der Enthaarungscremes und der Elektrolyse-Behandlung), wohingegen er kinnabwärts so gut wie keine Haare hatte. Apropos Kinn, seines war eckig und energisch, das der übrigen Kings fliehend und wenig ausgeprägt. Eds Nagelhaut war oval, nicht gerade. An Oberschenkeln und Po hatte er Muskeln wie ein Tour-de-France-Fahrer, und auf seinen Unterarmen traten die Adern auf beinahe obszöne Weise hervor, wohingegen sein »Bruder« und sein »Vater« schlaffund kraftlos wirkten. Ja, eine geheime Adoption erklärte vieles: warum Simon im Schwimmbecken immer panisch mit den Armen gerudert hatte, während Ed wie ein glänzender Fisch durchs Wasser glitt; warum Simon auf dem Baseballfeld herumstolperte und den Ball nicht traf, wohingegen Ed die Bälle bis über den Zaun drosch. Hatte sonst jemand in der Familie akut unter Depressionen gelitten, so wie Ed? Hatte jemand Eds Sichelfüße? Oder seine Kurzsichtigkeit? Wer war er, wenn er kein King war? Wer waren seine Eltern? Woher stammte er? Er surfte erneut im Netz, wo bei solchen Fragen zu besonderer Vorsicht gemahnt wurde. Die Ratschläge liefen im Kern darauf hinaus, von eigenen Nachforschungen abzusehen und sich stattdessen an einen Adoptionsspezialisten zu wenden. Ein Fachmann könne einem eine hilfreiche Perspektive aufzeigen, weil man, ohne selbst etwas dafür zu können, durch neue und beunruhigende Informationen verwirrenden, heftigen Gefühlen ausgesetzt sei. Die Entdeckungen über die eigene Person stellten »eine Identitätskrise dar, die bis an die Wurzeln des eigenen Wesens« gehe, deshalb sei es besser, sich mit guten Freunden und einem ausgewiesenen Fachmann zu beraten, bevor man sich auf die Suche nach den eigenen Eltern machte. Anderenfalls könne man »in ein Wespennest stechen« oder, wie es auf einer anderen Seite hieß, »die Büchse der Pandora öffnen«.
»Dennoch ist es immer besser, die Wahrheit zu wissen«, dachte Ed. »Die Wahrheit macht dich frei. Die Wahrheit ist eben die Wahrheit! Unwissenheit mag ein Segen
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