Ed King
sein, aber ich kann nicht nach dieser Devise leben. Das ist etwas für Kleingeister. Ich werde meinen Kopf nicht in den Sand stecken, das habe ich nie getan und werde es auch jetzt nicht tun. Dies ist nicht die Zeit, meine Überzeugungen zu ändern. Was immer ich hier für Ratschläge finde – das gilt nur für andere Leute. Ich weiß bereits, wie ich darüber denke. Für mich kommt nur die Wahrheit in Frage, welche Konsequenzen sich auch immer daraus ergeben. Ich kann nicht so tun, als wäre ich mit meiner Unwissenheit ganz zufrieden, und die Augen vor der Realität verschließen. Nein, ich werde die ganze Geschichte aufdecken, ganz egal, wohin sie mich führt. ›Wer bin ich?‹, das ist meine Frage. Lautet nicht eine der ältesten Aufforderungen der Welt: Erkenne dich selbst? Wie soll ich mich selbsterkennen, wenn ich diese Frage nicht bis zu meiner Geburt zurückverfolge? Ich muss es tun. Es gibt keine Alternative!«
Ed durchforstete fieberhaft das Netz. Er verzichtete auf Cybils Dienste, da sie sich noch in der Erprobungsphase befand. Im Grunde befand sich ganz Pythia noch in der Erprobungsphase, auch wenn die Öffentlichkeit vor der Leistungsfähigkeit, Geschwindigkeit und Exaktheit ihrer Suchprogramme in Ehrfurcht erstarrte. Dennoch war das Beste, was er im Augenblick tun konnte, das Netz nach Agenturen zu durchforsten, die einem bei der Suche nach den leiblichen Eltern helfen konnten. Er konzentrierte sich auf die nähere Umgebung, aber da Pythia noch lange nicht perfekt war – eine Suchmaschine, die nicht genau wusste, wonach sie suchen sollte (oder es wusste, aber die zahlenden Werbekunden zufriedenzustellen hatte) –, enthielt das angezeigte Ergebnis auch lokale Adoptionsagenturen, Anwälte, Berater, Psychiater und Therapeuten. Darunter entdeckte Ed auch den Namen der Psychotherapeutin, zu der ihn seine Mutter nach dem tödlichen Unfall mit Walter Cousins geschickt hatte, Theresa Pierce.
Wie alt mochte sie inzwischen sein? Musste sie nicht längst pensioniert sein? Nach den Angaben von Pythia praktizierte sie noch. Starrte die Leute immer noch aus ihrem Winkel an und schwieg geheimnisvoll. Rückte ihnen immer noch die Köpfe zurecht. Steckte immer noch Nadeln in Voodoo-Puppen. Ihm konnte es egal sein, aber hatte er es ihr zuletzt nicht gezeigt? Hatte er ihr nicht bewiesen, dass sie falschlag, als sie ihn einfach fortschickte? Er hatte Erfolg im Leben gehabt, war reich und berühmt geworden, und jetzt kam zu seiner Geschichte noch eine Adoption hinzu, was sie sogar noch einzigartiger machen konnte. Eine geheime Adoption hatte ein besonderes Flair. Der König lebt als Bettelmann, bis sich seine Herkunft offenbart, der Diener ist in Wahrheit ein Lord mit einer verwickelten Lebensgeschichte. Und es hatte etwas Biblisches, wie in der Geschichte mit Moses. Alles Hohe wird erniedrigt, die Armen werden das Land bekommen.
Adoptiert! Was hatten Dan und Alice sich nur gedacht? Was war in ihren liberalen jüdischen Köpfen vorgegangen? Hatten sie Angst, kinderlos zu bleiben, weil sie beide über dreißig waren? Hatten sie vergeblich versucht, eigene Kinder zu bekommen? Jetzt erkannte Ed dieZusammenhänge: ein gebildetes Paar, das die Welt verändern wollte, noch jung zur Zeit des gerade eingerichteten Friedenscorps, fasziniert vom smarten Präsidenten John F. Kennedy, Mitglieder der American Civil Liberties Union, Unterstützer des NAACP, der Bürgerrechtsorganisation zur Förderung der afro-amerikanischen Bevölkerung, und vermutlich intellektuell wie emotional ohne Bezug zu der Vorstellung, den eigenen Genen einen Vorrang einzuräumen. Dan hatte für die UN in Afrika gearbeitet, und Alice hatte im Vorstand zahlloser Wohltätigkeitsprojekte gesessen; zwölf Jahre lang war sie zweite Vorsitzende von Tikkun gewesen, Temple Beth Davids sozialem Gemeindedienst, und sieben Jahre lang hatte sie ehrenamtliche Arbeit für die Jüdische Kinder- und Familienfürsorge geleistet, die unter anderem auch Adoptionen vermittelte. Hatten sie sich an diese Einrichtung gewandt? Das war durchaus möglich, allerdings, dachte Ed, wäre es bei einer lokalen Einrichtung schwierig gewesen, die Sache geheim zu halten. Menschen wie Dan und Alice konnten glühende Verfechter der Adoption sein, wenn es darum ging, dadurch die eigene liberale Gesinnung zu unterstreichen, Kinder in der Dritten Welt vor dem Verhungern zu retten oder die Probleme der Welt zu lösen. Andererseits waren Dan und Alice Juden, und Juden hielten in der Regel
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