Ed King
morgen zurück zu deiner netten Familie, deinen hübschen Kindern, deiner wunderbaren Frau, deinem Sommerhäuschen, deinem Auto, deinem Haus, deinem festen Gehalt – alles das, Walter. Kein Wunder, dass du keinen Gedanken an morgen verschwendest. Du weißt genau, wie dieses Morgen aussieht.«
»Schon richtig«, entgegnete er. »Wohingegen du, junge Dame, wenn diese Unannehmlichkeit überstanden ist, jung und schön bist und dein ganzes Leben noch vor dir hast, ein offenes Buch, ein großartiges Abenteuer, während ich daheim Sitcoms wie Ozzie and Harriet schaue.«
Im Krankenhaus hielt der Geburtshelfer im letzten Moment eine böse Überraschung parat: Eine künstlich eingeleitete Geburt könne »mehrere Tage« dauern. Walters Sorge wuchs sprunghaft an, weil sein Lügengebäude nur für begrenzte Zeit hielt. Er hatte sich ausgerechnet, dass das Baby am ersten Tag käme und er sechsundneunzig Stunden später verschwinden könne, doch wenn er jetzt noch mehrere Tage vor der Geburt für das Einleiten der Wehen mit einrechnen musste – nun, er konnte es nicht mit einkalkulieren. Sein ganzer Plan fiele in sich zusammen. »Was ist mit einem Kaiserschnitt?«, fragte er.
Es stellte sich heraus, dass dies nicht seine Entscheidung war. Er wurde ins Wartezimmer verbannt, wo er auf einen guten Ausgang hoffen musste, gemeinsam mit einem anderen werdenden Vater – fünfundfünfzig und mit schütterem Haar –, dem Walter auf seine Nachfrage erklärte, was ein Versicherungsstatistiker macht, bevor beide in angespanntes Schweigen verfielen. Nach vier Stunden erfuhr er zu seiner Erleichterung, die Wehen seien eingeleitet worden. Fünf Stunden später, am 15. April 1963 gegen 7 Uhr abends, brachte Diane einen gut acht Pfund schweren Jungen zur Welt, der aus Leibeskräften schrie, wie ihm gesagt wurde. Als Walter ihn zum ersten Mal hinter einer Glasscheibe sah, von einer Stationsschwester dicht an das Glas gehalten, bemerkte er ein Plastikbändchen am Handgelenk seines Sohnes, das ihn als »Baby Doe« auswies. Baby Doe, entschied Walter, sah aus wie sein Großvater – wie Walters Vater –, der mit seiner dritten Frau in Cincinnati lebte. Der Junge war robust, gesund, kräftig gebaut und hübsch, wie die meisten männlichen Cousins, und alles war vollkommen in Ordnung mit ihm. »Wow«, dachte Walter, »das ist mein Sohn«, und einen Moment lang bedauerte er die Tatsache, dass er ihn nach drei Tagen niemals wiedersehen würde. Es war bedrückend. Es schmerzte ein wenig. Ein weiterer grausamer Moment auf diesem langen Marsch durch den Sumpf.
Von einem Münztelefon im Krankenhaus aus rief er Lydia an, diesmal aus »Baltimore«. »Immer noch auf«, sagte er. »Langer Tag hier. Ich stecke bis zum Hals in Arbeit.«
»Auf einer Konferenz?«
»Ich hasse Konferenzen.«
»Was hält dich auf einer Konferenz bis spät in die Nacht wach?«
»Ich muss mich hinter die Arbeit klemmen und meine Unterlagen studieren. Sonst bin ich bei den Sitzungen nicht vorbereitet, Liebling.«
Danach war es Zeit für einen Besuch bei Diane, die in einem blauen Krankenhaushemd aufrecht im Bett saß, ein bisschen angeschlagen, mit grauen Lippen und fettigen Haaren und dem amorphen Torso einer frisch Entbundenen, aber ansonsten ohne irgendein Anzeichen, dass etwas Dramatisches geschehen wäre. »Diane«, sagte er freudig, »du siehst gut aus.«
»Wie geht’s ihm?«
»Ich habe gerade noch nach ihm geschaut. Ein hübscher Junge. Ichhätte ihn stundenlang anschauen mögen und musste mich richtig von dem kleinen Kerl losreißen. Es ging mir ziemlich nahe, Diane. Es tat sogar ein bisschen weh.«
»Ich frage nicht nach dir, Walter. Ich frage nach ihm.«
»Kein Pieps«, antwortete Walter. »Im Augenblick sieht er sehr zufrieden aus. Und wie geht es dir? Wie fühlst du dich? Alles so, wie es sein soll?«
»Könnte nicht besser sein.«
Ihr Sarkasmus beunruhigte ihn, und sein Unbehagen wuchs, als sie ihre dünnen Arme verschränkte – an einem hing das Plastikband des Krankenhauses lose herunter – und ihren Kopf schüttelte, als empfände sie für alles, aber besonders für ihn, nur tiefe Abscheu.
»Tut mir leid«, sagte er einmal mehr. »Es ist auch für mich traurig. Sehr, sehr traurig sogar.«
Diane stieß einen Seufzer aus, der gar nicht mehr aufzuhören schien und der neben seiner Unruhe eine tiefe Niedergeschlagenheit in ihm weckte. Dies war der traurigste Tag in ihrem jungen Leben, und dass er darin eine Rolle spielte, genauer gesagt die
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