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Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
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und warf etwas Erde in die Grube. Andere Trauergäste traten vor und warfen ebenfalls Erde ins Grab, und zu jedem, der die Schaufel nahm, sagte der Priester: »Der Herr sei mit dir.« Als das vorbei war, bat er alle, mit ihm das Vaterunser zu sprechen. Nach dem »Amen« verließ die Trauerschar den Friedhof. Ed tat so, als wäre er in eine Gedenktafel vertieft, als sie an ihm vorbeikamen, aber er bemerkte, dass Walter Cousins’ Frau unter ihrem Hut stark geschminkt war und sich ihr Make-up langsam auflöste; dass sein Sohn, aus der Nähe betrachtet, vor Kummer verging; und dass seine Tochter, wie er unwillkürlich dachte, gar nicht mal schlecht aussah.
    Er folgte ihnen zu ihrem Haus. Sie wohnten in Greenwood. Der Rasen im Vorgarten war verbrannt, aber das Haus selbst schien neu gestrichen. Ein Futterspender für Kolibris hing von der Dachtraufe herab. In der Einfahrt lagen eine zusammengefaltete Plane und eine Aluminiumleiter an der Mauer eines Steingartens sowie ein zusammengerollter Gartenschlauch. Das Garagentor stand offen. Ed sah eine schmale Werkbank, einige Werkzeuge an der Wand, Farbdosen, einen Rasenmäher, eine Schneeschaufel und einen Stapel alter Zeitungen. Nach und nach trafen die Trauergäste ein. Durch das Fenster zur Straße sah Ed, wie die Leute im Haus sich unterhielten. Einmal erschien Walter Cousins’ Tochter mit Zigarette, Feuerzeug und einem Typ auf der Veranda, der vielleicht ihr Freund war. Sie gingen zur Straße, lehnten sich mit verschränkten Armen gegen einen Wagen, rauchten und redeten. Der Freund schien mehr aus Gefälligkeit zu rauchen, aber Walter Cousins’ Tochter qualmte wie ein Schlot. Nach einer Weile öffnete sie die Beifahrertür, kramte im Handschuhfach und tauchte mit einer neuen Zigarette auf. Ed las noch einmal den Nachruf, der in seiner Hemdtasche steckte. Sie hieß Tina und war 1959 geboren. Also war sie vier Jahre älter als er. Sie fuhr einen bananengelben Ford Malibu mit einem »Kauft keine Trauben«-Aufkleber auf der Stoßstange. Als er daran vorbeifuhr, sah er einen Parkausweis der University of Washington in einer Ecke der Windschutzscheibe.
    Der Unterricht an der Nathan Hale begann. Am ersten Morgen um acht traf Ed seine alten Kumpel rauchend vor einem Hintereingang. Errauchte eine halbe Zigarette mit, warf die andere Hälfte zu Boden und ging rein. Es war sein vorletztes Jahr. Im Geschichtskurs verteilte der Lehrer Arbeitsblätter mit einer Liste von Namen und Daten: Magellan, Kolumbus, Ponce de León, Cortez, de Soto, Amerigo Vespucci, die üblichen Verdächtigen. Ed überflog die Liste, seufzte und senkte den Kopf. »Nicht noch mehr davon«, dachte er. Das Gleiche passierte in der nächsten Stunde in Englisch. Es wurde ein Lehrplan verteilt, der Übungen zu den einzelnen Elementen einer Erörterung, zum Satzbau und zum richtigen Gebrauch der Zeichensetzung enthielt. Im Einführungskurs Chemie würden sie mit dem Periodensystem beginnen. In Algebra, das wusste Ed, hätte er den Unterricht übernehmen können. Am Ende des Schultags rauchte Ed eine weitere halbe Zigarette und bat einen Freund, ihn am Universitätsgelände abzusetzen.
    Auf dem Campus suchte Ed nach Tina Cousins’ bananengelbem Ford Malibu. Aber er konnte ihn nirgends entdecken. Allein auf dem Parkplatz neben dem Football-Stadion standen fünftausend Autos. Am nächsten Tag schwänzte er Chemie und Algebra und machte sich erneut auf die Suche. Obwohl er länger und entschlossener suchte, und das bei strömendem Regen, blieb er auch diesmal erfolglos. Er überlegte, dass der Parkausweis in der Windschutzscheibe alt gewesen sein könnte, dass Tina Cousins womöglich nicht einmal Studentin an der University of Washington war und auch nie gewesen war. Vielleicht hatte sie den Wagen mit dem Ausweis gekauft und sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu entfernen. Insofern war sein ganzes Herumlaufen nicht mehr als ein Schuss ins Blaue. Und wozu überhaupt? Angenommen, er fand den Wagen, oder angenommen, er begegnete Tina Cousins. Was würde sich dadurch ändern? Er würde sich nur noch elender fühlen. Er würde nach wie vor Angst haben, geschnappt zu werden. Er würde nach wie vor mit seinen Schuldgefühlen zu kämpfen haben.
    Er wusste, was zu tun war. Er musste das Haus der Cousins in Greenwood beobachten, bis Tina auftauchte. Am Dienstagabend und Mittwochabend legte er sich auf die Lauer, und dann, am Donnerstagabend gegen sieben Uhr, fuhr der bananengelbe Malibu in die Einfahrt. Tina, in Levis und einem

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