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Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
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weitergehen? Nun, da dein Freund nicht mehr da ist?« Wieder zeigte Fine einen schmalen Spalt mit Daumen und Zeigefinger, zwinkerte aber obendrein und sagte: »Ich glaube, zumindest so viel sagen zu können. Wir reden hier über Schmerz. Nicht über Depression, sondern über seelischen Schmerz. Wir reden darüber, wie du dich nach dem Tod deines Freundes fühlst, eines Menschen, der dir viel bedeutete. Warum solltest du keinen Schmerz empfinden? Jeder andere würde das auch. Und Schmerz ist kein angenehmes Gefühl, nicht wahr? Da ist ein tiefes Loch in deinem Leben, an der Stelle, die zuvor dein Freund eingenommen hat. Was soll diesen Platz füllen? Oder wird er leer bleiben? Verstehst du, was ich sage? Über das Loch? Über Verlust? Genau das ist Verlust – ein Loch. Schmerz ist das, womit du dieses Loch zu füllen beginnst. Ich glaube, du solltest diesen Schmerz einfach akzeptieren. Lass den Schmerz zu. Bekämpfe ihn nicht.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Ed. »Irgendetwas stimmt nicht.«
    »Zumindest können wir dir etwas verschreiben«, sagte Fine. »Paul Stern hat dir Diazepam verordnet, aber das hilft dir nicht, dein Problem zu lösen. Wir können dir langfristig etwas geben, womit du dich sehr viel besser fühlst und womit du dein Leben wieder in den Griff bekommst.«
    »Nein«, sagte Ed. »Ich bin kein Typ, der ständig Pillen einwirft.«
    »Niemand nimmt gerne regelmäßig Tabletten«, sagte Fine. »Aber wenn sie einem weiterhelfen, ist es gut, dass es sie gibt. Medikamente helfen sehr vielen Menschen, Ed. Und ich denke, das richtige Medikament könnte auch dir helfen, mit deinem Schmerz fertig zu werden.«
    Ed seufzte.
    »Du musst dich nicht sofort entscheiden«, sagte Fine. »Du kannst darüber nachdenken, und wir reden später. Und selbstverständlich ist es allein deine Entscheidung. Du, nicht ich, musst es wollen, Ed. Ich bin nur hier, um dir zuzuhören.«
    Später, als er mit einem Kissen über dem Kopf im Bett lag und zwischen Selbsthass und Gedanken um den Tod hin- und herpendelte,grübelte Ed darüber, ob er Psychopharmaka nehmen sollte. Alice besprach sich am Telefon mit Roger Fine und entschied, eine zweite Meinung einzuholen, da auch ihr der Gedanke an Psychopharmaka nicht behagte. Sie informierte sich schnell und gründlich und vereinbarte dann einen Termin bei einer Therapeutin namens Theresa Pierce, die auf depressive Jugendliche spezialisiert war.
    Theresa Pierce empfing ihre Klienten in einer niedrigen Mansarde, die für Eds Nase nach ranziger Milch in einem Florteppich roch. Schon in der Tür musste er bei ihrem Anblick an den Zauberer Merlin denken. Sie war bleich und wirkte irgendwie eulenartig, wie jemand, der Winterschlaf hält. Sie trug eine Stretchleggins, Turnschuhe und einen Wollsweater mit Reißverschluss. Ihre große, altmodische Hornbrille mit Glasbausteinen ließen ihre Augen dreimal größer als normal erscheinen, vor allem ihre feucht glänzenden Pupillen. Der Raum war vom Boden bis zur Decke mit alten Büchern vollgestopft, viele mit gebrochenem Rücken, angestoßenen Ecken und Aufklebern eines Antiquariats, und die beiden unbequemen Windsorstühle, einer für die Ärztin, einer für den Patienten, standen trotz der beengten Räumlichkeiten in größtmöglicher Entfernung voneinander. Da hockte sie nun in der hintersten Ecke, schien weder für noch gegen Ed eingestellt, sondern auf unbeteiligte Weise anwesend, mit geheimnisvoller Miene und aufmerksam durch ihre auffallend großen Brillengläser starrend, in jeder Hinsicht darauf bedacht, unterschwellig den Eindruck zu vermitteln, sie verfüge über geheimnisvolle Kräfte.
    Er erzählte von sich. Um sie nicht in irgendeine Richtung zu beeinflussen, erwähnte er weder Roger Fine noch Psychopharmaka. Er erzählte ihr, dass mit seinem Leben eigentlich alles in Ordnung sei und er nicht wisse, warum er so unglücklich sei, ohne Interesse für Dinge, die ihm bisher Spaß gemacht hätten, teilnahmslos, in sich gekehrt und mit düsteren Gedanken beschäftigt. Im Morast steckend und katatonisch. Wie unter Wasser, starr, unbeweglich und wie betäubt. Unfähig, aufzustehen oder zu essen. Die meiste Zeit zusammengekauert wie ein Fötus und mit einem Kissen über dem Kopf im Bett liegend, weil er so ungestört seinen düsteren Gedanken nachhängen konnte. Als er geendet hatte, sagte Pierce kein Wort. Stattdessen starrte sie ihn nur irritierend an, zurückgezogen in ihrem Winkel, eine rätselhafte Sphinx. Während er den leeren Raum mit

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