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Ed King

Ed King

Titel: Ed King Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Guterson
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Halbbruder, dem Polizisten, der sagte, er habe ihre Adresse über ihre Autozulassung herausbekommen. »Das ist wirklich lieb und nett von dir, John«, sagte sie. Allerdings stellte sich heraus,dass er nicht einfach nur so anrief. Er wollte ihr sagen, dass Mum im Krankenhaus lag. Neben ihrer kaputten Leber gab es noch viele andere unheilvolle Vorzeichen; das schlimmste davon war, dass sie nichts mehr aß. Sie redete unzusammenhängendes Zeug, aber eins war klar: Mum wollte Diane sehen, bevor sie starb. Diane sagte, sie wolle sich nach dem Preis für ein Flugticket erkundigen, aber dann rief John erneut mitten in der Nacht an und sagte über eine knisternde Leitung, Mum sei »gegen zehn Uhr abends friedlich entschlafen«.
    Am nächsten Morgen kaufte Diane ein Flugticket. John erwartete sie in der Ankunftshalle von Heathrow. Nach einer steifen Umarmung wuchtete er ihren Koffer auf seine Schulter und trug ihn wie einen Sack Mehl zu seinem Lada. Er war ein Riese mit einem furchtbaren Walrossschnauzer, unbeholfen und ehrerbietig. Früher einmal ein wendiger Rugby-Stürmer, war er jetzt aufgequollen, kurzatmig und langsam. Er benutzte Haargel. Sein Gesicht war rot, seine Lippen rissig und seine Augen rund und glänzend. Die geplatzten Äderchen auf Nase und Wangen waren die typischen Anzeichen des Alkoholikers. Als sie im Wagen saßen, in dem er mit dem Kopf an die Decke stieß und sein massiger Körper über den Sitz quoll, sagte er zu Diane, sie sehe »ziemlich fit aus für ihr Alter«. Der Schalthebel sah in seiner Pranke so zierlich aus, dass es ein Wunder war, dass er ihn nicht abbrach.
    Noch ehe sie den Flughafenzubringer verlassen hatten, fühlte Diane sich daran erinnert, dass in England alles kleiner, enger, kompakter, dichter und vom Zahn der Zeit gezeichnet war. Es regnete im August, um drei Uhr nachmittags. Der Verkehr war chaotisch, aber die Leute fuhren rücksichtsvoll. Diane bemerkte den Mehltau auf den Bäumen und Sträuchern zwischen Epping und Stansted und die wild wuchernden Hecken hinter Great Dunmow. Die Landschaft hier sah wie eine Müllhalde aus, und die Nähe zu London war eindeutig ein Nachteil. Sie sah die Spuren jahrhunderteralter Verwüstungen, die Mensch und Natur gleichermaßen angerichtet hatten und die sie aus der Zeit ihrer Kindheit wiedererkannte, aber damals noch nicht hatte benennen können. Dennoch mochte Diane England. Sie zog das Land mit seinen schäbigen Pubs, Schornsteinen und Mansardendächern dem aufgesetzten Glanz Amerikas vor. Englands Fabriken und Industrieanlagenwaren noch als Ruinen auf authentische Art trostlos, während ein ähnliches Durcheinander im Nordwestzipfel Amerikas Diane wie die Überreste eines erst kürzlich aufgegebenen Kolonialpostens vorgekommen wären. Allerdings konnte sie weniger als die Hälfte ihrer Aufmerksamkeit diesen Dingen widmen, weil ihr Bruder während der Fahrt pausenlos auf sie einredete und ihr alles Mögliche über das Dahinscheiden ihrer Mutter und sämtliche Heldentaten seiner erwachsenen Kinder erzählte. Als sie Great Hockwold erreichten, sagte er warnend: »Du wirst es nicht mehr wiedererkennen«, was tatsächlich der Fall war. Der Tesco, in dem sie früher gelegentlich etwas geklaut hatten, war viel heller und moderner. Es gab Dutzende neue Kreisverkehre und Fußgängerzonen in der Innenstadt. Von der High Street aus sah man die Kuppel einer Moschee sich über der Umgehungsstraße erheben, und es gab drei indische Imbissbuden in unmittelbarer Nachbarschaft, über die der Polizist eine eindeutige Meinung zu haben schien. An einer Ampel sah Diane auf das vollgestopfte Armaturenbrett eines Taxis neben ihnen, auf dem lauter Figuren von Ganesha, dem Gott des Erfolgs, und Rekha, einem Bollywoodstar, standen, wie der Polizist ihr erklärte. Das alte Bergwerk war in eine Touristenattraktion umgewandelt worden, genau wie der Bäcker Tate’s, der sich jetzt großspurig »The Pasty Shoppe« nannte. Sie fuhren an gesichtslosen Blocks vorbei und hielten vor einem Haus, das der Polizist mit einem Anflug von Humor sein »Domizil« nannte. Als Ausgleich für die heruntergekommene Fassade hatte er dekorative Fuchsien gepflanzt, die offensichtlich eifrig begossen wurden. Dennoch machten sie einen kümmerlichen Eindruck. Neben der Haustür standen zwei rostige Stühle.
    Diane bekam ein feuchtes, tristes Zimmer im Erdgeschoss. Im Haus roch es nach Bratfett und Waschmittel. Die drei Kinder des Polizisten lebten schon lange in London. Wie sich

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